Kirill Petrenko in Berlin: Zauber und Zugkraft
Triumph in der Philharmonie: Rattle-Nachfolger Kirill Petrenko trat beim Musikfest mit dem Bayerischen Staatsorchester auf.
An diesem Abend sind gleich zwei Orchester in der Philharmonie anwesend. Das auf dem Podium sind die Gäste aus München, das im Publikum sind die Berliner Philharmoniker. Beide verbindet der kleine Mann, der mit energisch federnden Schritten auf das Dirigentenpult zustürmt. Kirill Petrenko und sein Bayerisches Staatsorchester machen auf ihrer ersten gemeinsamen Europa-Tournee Station beim Musikfest, wo nicht nur Klassikfans den künftigen Chefdirigenten der Philharmoniker hören wollen.
Die Berliner Gelegenheiten dazu sind rar, nur ein Programm dirigiert der 44-Jährige in dieser Saison bei den Musikern, die ihn zum Nachfolger von Simon Rattle wählten. Und der Weg ist noch weit, bis Petrenko ab Sommer 2019 sukzessive in der Philharmonie ankommt. Bis 2021 wird er pendeln zwischen hier und der Bayerischen Staatsoper, mit deren Musikern er gleich zweimal in Folge den Titel „Orchester des Jahres“ erringen konnte.
Man will diesen Dirigenten, der keine Interviews gibt und auch keine Zeit für Sitzungen in Aufnahmestudios verschwendet, unbedingt im Auge behalten, man muss es auch, denn Petrenko, der besessene Probierer und Selbstinfragesteller, wandelt sich mit rasantem Tempo. Das Einzige, auf das man sich stets bei ihm verlassen kann, ist sein skrupulöser Umgang mit der Partitur, mit diesem kostbaren Stoff, der da zum Leben erweckt sein will.
Er lächelt deutlich mehr dieses Mal
Petrenko ist sich seiner Verantwortung vollauf bewusst, und fast bekommt man es mit der Angst zu tun, wenn man spürt, wie unnachgiebig er sich die gegen den Schmerz antrainierenden Schultern volllädt. Einen Besessenen muss man ihn nennen, einen, der unfassbare Energieströme ins Orchester zu schicken vermag und sich entgegen aller Selbstvergessenheit am Pult dabei immer zu befragen scheint, ob er die gewünschte Wirkung auch erreicht.
Wirkung, das ist bei Petrenko ganz die Wirkmacht der Musik, ohne jede Personality Show. Doch lässt sich das wirklich durchhalten, angesichts der enormen Erwartungshaltung, die ihm bei seinem Berliner Gastspiel entgegenschlägt? Er lächelt deutlich mehr dieses Mal, und es scheint ihm wichtig, dass beim Publikum der Eindruck ankommt: Ich bin gerne hier, hier fühle ich mich wohl. An seine Musiker gewendet, heißt das auch, vergessen machen, dass der Chef wieder bis zur letzten Minute an Details gefeilt, um Zentimeter bei der Orchesteraufstellung gerungen und die vorangegangenen Tourneeauftritte analysiert hat. Auf diesem Niveau Musik zu machen heißt, endlos zu puzzeln. Und ein großer Dirigent zu sein bedeutet, all diese Mühen vergessen machen zu können, das Wissen und Probieren einmünden zu lassen in einen unwiederbringlichen Moment der geistesgegenwärtigen Freude.
Das Publikum bleibt nach dem letzten Ton lange still
Gleich zu Beginn mit György Ligetis „Lontano“ für großes Orchester gelingt Petrenko eine berührende Konzentrationsleistung, bei der er mit zarter Zeichengebung Kontakt zu einer Musik aufnimmt, die jeder Zeitlichkeit entrückt scheint. Einsätze, die man nicht hören soll, Rückungen, die kein dramatisches Fortschreiten suggerieren: Das ist ein mit großer klanglicher Delikatesse gespielter Öffner für die Ohren, den man gerne ganz am Ende dieses Abends noch einmal gehört hätte. Auch nachdem der allerletzte Ton verklungen ist, bleibt es lange still im Saal. Das freundlich-fordernde Verhältnis, das Petrenko mit dem Bayerischen Staatsorchester verbindet, hat sich wundersam bis ins Publikum hinein verlängert.
Béla Bartóks erst spät entdecktes 1. Violinkonzert kann an diesen Magnetismus nicht wirklich anknüpfen. Das liegt neben dem Werk selbst auch am Solisten Frank Peter Zimmermann, der sogleich mit der Art, wie eine Stradivari Klangraum fordert, Petrenkos Sichtweise konterkariert. Mit reichlich Vibrato und nur pauschal umrissener Leidenschaft klingt man neben diesem glühenden Dirigenten auch als Star seiner Zunft blass und fast schon borniert. Das wird ein spannender Aspekt werden für die künftige Solistenauswahl bei seinen Philharmoniker-Konzerten.
Es herrscht vitales Musizieren
Mit welchem Überschwang wirft sich Petrenko nach der Pause in die „Symphonia Domestica“ von Richard Strauss! Als ob er alle Betulichkeiten ein für alle Mal aus diesem Werk fegen und nichts mehr davon wissen wolle, ob und wie der Komponist hier sein Familienleben in Orchesterstürme goss. Gewaltig ist die Zugkraft, die Petrenko erzeugt, doch er ist dabei nie starr, begreift Takte und Tempi als lebenden Organismus, beständiger Veränderung unterworfen. Der Klang der Münchner entfaltet sich dabei ebenso edel wie unerschrocken, immer bereit für solistische Fein- und Freiheiten. Dass ihr Chef diesen Strauss zergrübelt, kann ihm niemand vorhalten. Es herrscht vitales Musizieren, dem man beinahe nicht mehr anhört, wie stark der Dirigent es kontrolliert.
In die herbeigejubelte Zugabe rutscht etwas von dieser Strauss-Entfesselung hinüber. Das Meistersinger-Vorspiel könnte man sich insgesamt leichter genommen denken, doch Petrenko lässt seine Musiker beherzt losmarschieren, mit keiner anderen Ideologie als der, dass sich die Musik ins Leben spielen muss. Wer nach schönen Stellen sucht, übersieht das Wesentliche. Beeindruckender Abend.