Matthias Lilienthal in München: Wohnen muss sich wieder lohnen
Im Herbst beginnt seine erste Spielzeit als Intendant der Münchner Kammerspiele. Doch zuvor will Matthias Lilienthal mit dem „Shabby-shabby-Apartments“-Projekt die behäbige Bayernmetropole aufmischen.
Ein Mann schleppt zwei große Umhängetaschen durch München. Aus der einen blitzen Lebensmittel hervor, zum Beispiel Bio-Käse. Offenbar für daheim. In der anderen liegen dicke Prospekte. Er verteilt sie im jungen Publikum. An der Technischen Universität wird an diesem Abend diskutiert über Wohnen in München. „Will noch jemand ’n Programm von den Kammerspielen haben?“, fragt der Prospektverteiler mit dem gelben T-Shirt und den ausgebeulten Jeans. Gleich sitzt er selbst auf dem Podium und erzählt von seiner Wohnungssuche in München. Von 40, 50 Besichtigungen in der Stadt mit den Irrsinns-Preisen. Es ist Matthias Lilienthal, der die Hefte verteilt. Der neue Intendant der Kammerspiele, städtisches Theaterhaus Nummer eins. Der Mann aus Berlin kümmert sich um alles: ums Schauspiel, ums Wohnen, um die Verbreitung der Programmhefte.
Erst im September fängt Lilienthal bei den Kammerspielen an, doch schon seit einigen Monaten schüttelt der 55-Jährige lustvoll die Münchner Stadtgesellschaft durch. Agiert, provoziert, sucht den öffentlichen Raum. Vor allem auf die prekäre Wohnungssituation hat er sich eingeschossen. Dafür wird er schon jetzt bejubelt und verehrt. „Shabby-shabby-Apartments“ sollen auf seine Initiative hin an vielen Ecken und Enden der Stadt aufgestellt werden und zu mieten sein: billigste Behausungen, aber mit künstlerischem Anspruch. „Shabby“ heißt im Englischen „schäbig“. Ein Stil, der zugleich Design- Trend ist und Wohngegenstände auf alt trimmt. „Bei uns gibt es etwa eine Wohnung, die aus zwölf alten Badewannen besteht“, berichtet Lilienthal. Oder ein Schiff mit Kombüse und Sonnendeck. Oder das „house of simple pleasure“ – ein kleiner Bauhaus-Pavillon, in dem man sitzt und mit den Beinen im Wasser plätschern kann. „Damit wird allen das zugänglich gemacht, was sich die Reichen am Starnberger See leisten können.“
In München hat Lilienthal sehr früh das Thema Mieten entdeckt
Matthias Lilienthal, scheint es, öffnet als Ur-Berliner den Münchnern den Blick, einen neuen Blick, auf ihre eigene Stadt. Nicht auf die prächtigen ockerfarbenen Klassizismusbauten von Leo von Klenze – München, die nördlichste Stadt Italiens! –, sondern auf Verwerfungen und Abgründe. „Ich habe in München sehr früh das Thema Wohnen entdeckt“, sagt Lilienthal, „weil ich das Gefühl habe, dass fast alle normal verdienenden Leute 50 Prozent ihres Einkommens dafür ausgeben.“ 20 Euro Miete kostet der Quadratmeter in der Stadt. Eigentum ist von 5000 Euro pro Quadratmeter aufwärts zu erwerben.
Als Alternative errichtet der künftige Theater-Intendant die Shabby-shabby- Apartments. Er nennt sie „Sozialwohnungen im öffentlichen Raum“. 25 ganz unterschiedliche sollen es werden. Der Andrang, eine davon errichten zu dürfen, war nach der Ausschreibung im März enorm. 258 Designer, Architekten und Künstler haben sich beworben. Es gab nur eine strenge Vorgabe: Das Material darf nicht mehr als 250 Euro kosten. „Viele super-schrille Entwürfe sind herausgekommen“, lobt Lilienthal. Von einer Jury wurden die Sieger ermittelt, das Berliner Architektenbüro „Raumlabor“ kümmert sich um die Umsetzung.
Lilienthal rückt Plätze ins Bewusstsein, die die Münchner selbst gar nicht mehr wahrnehmen
In Berlin war Matthias Lilienthal Leiter des HAU. Eine stadtbekannte Person. Jetzt also München. Das Sozialwohnungsprojekt ist der neuen Kammerspiele-Saison vorangestellt. Ab 12. September werden die Shabby-shabby-Apartments einen Monat lang vermietet. 35 Euro kostet die Nacht. Darin ist ein Frühstück in der Kantine der Kammerspiele enthalten. In der Nähe der Standorte gibt es entweder öffentliche Toiletten oder ein Dixi-Klo. Achtung: In dieser Zeit ist auch Oktoberfest, die Stadt im dröhnend-bebenden Ausnahmezustand. Quer über München werden die Blech- oder Luftmatratzenbehausungen verteilt. Auf öffentlichem Grund, Parkplätzen, Brunnen, Gehwegen. Theater ist das für Lilienthal, Performance außerhalb des Schauspielhauses, Rückeroberung des öffentlichen Raumes. „Der Übernachtende wird selbst zum unfreiwilligen Performer“, sagt der Intendant, „der ohne Bühne, Schauspieler und Theater-Rahmen auskommt.“ Man will es angenehm gestalten: „Wir haben die besten Matratzen von Ikea, man schläft super und amüsiert sich.“
Lilienthal kennt München schon ziemlich gut, seit bald einem Jahr ist er da, saugt die Stadt auf. Er rückt Plätze ins Bewusstsein, die die Münchner selbst gar nicht wahrnehmen. Ein Shabby- shabby-Apartment wird etwa unter der Reichenbachbrücke an der Isar stehen. „Sozialer Brennpunkt“, sagt Lilienthal. Aber im Sommer auch Party-Gegend. „Was passiert, wenn der Bewohner der Sozialwohnung feiert, wenn Penner dazukommen und fragen, ob noch ein bisschen Rotwein übrig ist?“ Lilienthal hofft auf das „Theatererlebnis“. Er wünscht sich eine „neue Reibung mit der Realität“.
Die Stadt, die Münchner Szene liebt ihn schon jetzt, diesen Neu-Bayern, der mit leicht untersetzter Figur Gedanken an den Berliner Bären aufkommen lässt. Der sich bei Hitze die Ärmel hoch bis über die Schultern zieht. Das Kulturreferat hat begeistert die Shabby-shabby-Idee übernommen, fördert sie. „Wenn ich hier vor mich hin berlinere“, räsoniert Lilienthal, „freuen sich die Münchner und benutzen umso unverfrorener ihre eigene Mundart.“ Als Berliner sei man „immer auch die lustige Figur aus dem Weißen Rössl“.
In der Münchner Innenstadt tummeln sich nur noch Superreiche und Arme, warnt Lilienthal. Dort die Bahnhofsgegend, ein paar hundert Meter weiter die Altstadt und das teure Lehel. Die City werde zum „touristischen Schaufenster“. Für Berlin aber sieht er eine ganz ähnliche Entwicklung. Prenzlauer Berg oder Mitte seien schon eine Art von München. Und doch stünden beide Städte „herzlich gegensätzlich zueinander“. In München liebt Lilienthal die Wirtshäuser, ihr gemischtes Publikum, das rasche, kühlende Bad in der Isar. „An Berlin aber ist lustig, dass man einfach so rumrotzen kann.“
Die edle Maximilianstraße, in der auch sein Theater beheimatet ist, hat es Lilienthal besonders angetan. „Eine Straße, die den Münchnern verloren gegangen ist“, stellt er fest. Die neuen Sozialwohnungen dort, auf den Bürgersteigen, bereiteten ihm deshalb großes Vergnügen. Er stellt sich vor, wie die Gäste am Vormittag im Pyjama vor dem Ives-Saint-Laurent-Laden aufs Dixi-Klo gehen. Die Maximilianstraße werde neu bewohnt, „zu den Handtaschen tritt ein Gegensatz auf“. Den TU- Studenten erzählt er, dass er in der Baaderstraße, Isarnähe, eine Wohnung gefunden hat. Im Haus vom Café Baader, 50er Jahre, 4. Stock. 67 Quadratmeter, 1480 Euro warm. Oh jemine, wie freimütig ist das denn? So genau würde das ein Münchner nie bekennen. Der raunt lieber nur und überlässt es der Phantasie des Zuhörers, welche Reserven es für ihn noch gibt. Lilienthal aber geht ganz offen rein, und das ist neu für München.
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