Wandel in Berlin-Prenzlauer Berg: Oderberger Straße, wie haste dir verändert!
Zu DDR-Zeiten war sie der Blinddarm der Kastanienallee an der Hinterlandmauer: die Oderberger Straße in Prenzlauer Berg. Heute sind die alten Leute weg, die Jungen genießen das internationale Flair in den vielen Cafés. Ein neuer TV-Film stellt uns die Oderberger vor.
Sie liegt in den Straßenschluchten von Prenzlauer Berg und ist dennoch breit und geräumig. Die vier- und fünfgeschossigen Mietskasernen zu beiden Seiten haben ihre eigenen alten Gründerzeit-Gesichter, hier und da leuchtet ein kräftiges Make-up von der Fassade. Der Rotdorn erleuchtet die ganze Straße. Vor den hohen Haustüren, die früher offen standen wie Scheunentore, haben die Bewohner Blumen und Büsche in die Kübel gesetzt, und man sieht, dass sie auch die Pflege übernommen haben.
Seit vor 25 Jahren der Zeitgeist und ein muskelbepackter Anwohner mit seinem Vorschlaghammer die Mauer zum Einsturz gebracht hatten, ist die Oderberger Straße wie verwandelt: Peu à peu entstand ein ansehnliches Stück Stadt, eine Flaniermeile gar, garniert mit kleinen Geschäften und viel zu vielen Restaurants. Wenn die Sonne scheint und der Berliner „draußen in’t Freie det Leben jenießt“, könnte man meinen, in einem Kurort auf dem Präsentierteller zu sitzen.
Wer sehen und fühlen will, wie sich die Stadt in 25 Jahren verändert hat, kann das hier an Ort und Stelle studieren. Wie es vorher war, zeigt jetzt ein Dokumentarfilm von Freya Klier und ihrer Tochter Nadja, der am Dienstag, 2. Juni, um 21 Uhr im RBB gesendet wird. Da taucht die Vergangenheit noch einmal auf – Mutter und Tochter hatten hier bis zu ihrem politisch motivierten Rausschmiss aus der DDR im Jahr 1988 zehn Jahre lang gelebt. Als die beiden abgeschoben wurden, war Nadja, die spätere Jung-Regisseurin, gerade fünfzehn Jahre alt. Mit elf hatte sie die Hauptrolle im Defa-Film „Gritta von Rattenzuhausbeiuns“ gespielt.
Der Blinddarm der Kastanienallee vor der Mauer
Der neue Film „Meine Oderberger Straße“ ist die stellenweise sehr emotionale Chronik einer Straße im Wandel: In der DDR war das so eine Art Blinddarm der Kastanienallee. Doch man kam nicht weit: Zwischen 1961 und 1989 war die Oderberger nurmehr eine Sackgasse. Richtung Westen stand, wo sich Schwedter, Eberswalder und Oderberger Straße treffen, die graue Hinterlandmauer. Und ein paar Meter weiter, im Westen, ein Podest. Von dem blickte einst auch Martin Luther King über den Stacheldraht, ehe er zum Gottesdienst in die Marienkirche (Ost) fuhr.
„Als nach dem Mauerbau von dieser Plattform Leute in den Osten blickten, baute die DDR eine noch höhere Holzplanke, damit man sich nicht zuwinken konnte. Daraufhin setzten die West-Berliner noch ein Stockwerk drauf – und so ging das eine Weile“, erinnert sich ein damaliger Bewohner der Straße, während sich ein anderer „wie ein Affe im Käfig“ beobachtet fühlte, „wenn die da drüben über die Mauer glotzten“.
Belustigt erzählt Ines Meißner, die hier wohnte, von jener Szene, als sie mit Tochter Jenny an der Mauer (Ost) entlanglief und „drei, vier Leute, die auf dem Podest (West) standen, plötzlich ausriefen: Da sind welche! Guck, guck! Da laufen welche!“ Die Brüder und Schwestern im Osten schienen diesen Aquariumseffekt zu meiden. Nadja Klier schaute sich nach der erzwungenen Ortsveränderung einmal ihre Straße von der anderen Seite an – und wer stand drüben, also im Osten, am Oderberger Eck am Fenster? Ihre beste Freundin. Winken und Weinen. 1988. Bald sollten Mauer und Plattform verschwinden, aber wer ahnte das schon?
Wo kleine Geschäfte waren, locken heute Kneipen
Längst fällt der Putz nicht mehr von den Brüstungen der Balkons, die kleinen Parterre-Geschäfte, die freie ostdeutsche Jugendfreunde einfach geentert hatten, um sich wohnlich darin einzurichten, dienen wieder, wie einst, dem Kommerz. Doch Drogerie, Kohlenhändler, Bäcker, Fleischermeister Dufft und der legendäre „Oderkahn“, in dem man auch noch seinen Nachtdurst löschen konnte, sind von der Bildfläche verschwunden. Dafür locken Kneipen ohne Ende.
„Diese Straße ist ein Sahneschnittchen am Mauerpark mit Flaniergefühl“, sagt Freya Klier, „nicht schwäbisch geprägt, sondern international.“ Und, gottseidank, noch ein bisschen berlinerisch: „EntwederOder“ oder „Rote Lotte“ liegen am Wegesrand, „Oderquelle“ und Café Hüftengold, vor einem Laden steht: Anglizismen werden von uns nicht geliked, auf dem Hirschhof-Spielplatz fordert einer: „Schwabenhass tolerieren!“, und auf einer Brandwand steht in meterhohen Lettern: „Deutschland braucht mehr Fantasie.“ Die Kreativität der Nichtangepassten lebt fort, wie das wilde Grün in „Kommunistenkübeln“, wie sie hier die Umfassungen der Hochbeete nennen, weil die aus Steinplatten von Grenzanlagen gemacht sind.
Was Nadja Klier vermisst? „Die älteren Leute.“ Seit der Wende fand ein Austausch der Bevölkerung statt. Der Lift im Hinterhof hatte seinen Preis, wer den nicht zahlen konnte, nahm schweren Herzens Abschied vom Kiez. Auch die jungen Neuen wissen die Vorzüge der Straße mit ihren breiten Fußwegen zu schätzen: „Es ist ungemein ruhig, ich genieße die Idylle, wenn gegen zehn Uhr früh die Straße erwacht“, sagt Andreas Ewert, während er sein Fahrrad aus dem Flur schiebt. „Aber wenn der Mauerpark die Massen anzieht, dann ist das hier wie ein Straßenfest – und alle Kneipenbänke sind besetzt.“
Reisebusse haben die Oderberger entdeckt – so erfahren auch die Pfadfinder aus dem letzten Winkel, dass die Feuerwache von 1883 die älteste in Deutschland ist, und noch immer brausen die Blaulicht-Wagen Tag und Nacht mit nervigem Tatütata aus dem Depot.
Ein altes Stück Prenzlberg: das Stadtbad
Dennoch: Gleich daneben, in der Oderberger 22, leitet Christine Knauff seit zehn Jahren die „Starter-Schauspielschule“ und vermittelt mit profilierten Lehrern das Handwerkszeug für diesen schönen Beruf, „mit Herzblut und Idealismus“. Donnerstags ab 18 Uhr gibt es für jeden die Möglichkeit, in einer offenen Klasse mit der hohen Kunst vertraut zu werden. Hat man das Talent, dem Lockruf von Theater, TV und Film zu folgen?
Genau am anderen Ende der Straße macht das berühmte Stadtbad neugierig: Wann geht es denn nun endlich wieder los mit dem Schwimmen zwischen der Jugendstil-Dekoration?
„Ende November“, sagt Barbara Jaeschke, die seit 1983 ihre German Language School (GLS) leitet, ein internationales Sprachenzentrum mit fünf Gebäuden zwischen Oderberger Straße und Kastanienallee. 80 Mitarbeiter, 5000 Studenten aus 35 Ländern und 400 Lehrer gehören dazu, wie auch Hotelzimmer, Seminarräume und ein Restaurant. 18 Millionen Euro kostet die Wiederbelebung des Bades, fünf Tage in der Woche soll es jeweils fünf Stunden für jedermann geöffnet sein. Auch die Sprachenschule bringt das neue Flair in diese alte Gegend. „Wenn bei uns Pause ist, dann fühlt man sich wie im Gewusel beim Turmbau zu Babel“, sagt Barbara Jaeschke, „da werden 20 Sprachen gesprochen.“
Und abends sind es noch mehr in den Cafés, wo einst die Welt zu Ende war, aber nicht das Leben.