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Für den Frieden. Und für die Würde des Menschen. Leipzig, das weltweit älteste Dokumentarfilm-festival, warb schon zu DDR-Zeiten mit völkerverbindenden Slogans. Alljährlich wird hier die Goldene Taube verliehen.
© dpa/Jan Woitas

Zum Auftakt von Dok Leipzig: Wir wollen die Welt verändern

Vom Vorzeigefestival der DDR zum internationalen Treffpunkt der Dokumentarfilmer: das Filmfest für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig feiert 60. Geburtstag.

So beginnen Weltkarrieren: mit unscheinbaren Zetteln, die an Küchenschränken kleben. Passt eigentlich auch gut zur Dokumentarfilmerszene, die so wenig als glamourös gilt wie ihr Sujet, das wirkliche Menschenleben. Die in kleinen Lettern auf Russisch gekritzelte Nachricht stammt von Sergej Loznitsa. Im Dokumentar- wie im Spielfilm gehört der Regisseur zu den internationalen Größen, seine Filme laufen in Cannes und Venedig. Doch angefangen hat alles mit diesem verblichenen Hafti in einer Altbauwohnung in Prenzlauer Berg. Oder besser: mit der streng auf die korrekte – also unverkürzte – Verwendung des Terminus „Dokumentarfilm“ drängenden Frau, die vor dem Küchenschrank steht.

Das ist Tamara Trampe, Jahrgang 1942, Filmemacherin, Dramaturgin, früher bei der Defa, heute freischaffend. Von 1993 bis 2003 ist sie in der Auswahlkommission des Dokfilm-Festivals Leipzig für das osteuropäische Kino zuständig. In dieser Funktion hat sie nicht nur von Kirgisien bis Bulgarien Schneideräume und Hochschulen abgeklappert, um anspruchsvolle Werke nach Leipzig zu holen, sondern dem Filmstudenten Loznitsa auf einem Klappbett im Wohnzimmer auch noch Obdach gewährt. Aber vor allem hat sie seinen 28 Minuten kurzen Erstling „Heute bauen wir ein Haus“ in den Wettbewerb von Dok Leipzig gebracht, wo der heute in Berlin lebende Ukrainer im Sturm den Hauptpreis gewann, die Goldene Taube.

Festivals sind die wichtigste Vertriebsmöglichkeit für unabhängige Dokumentarfilme

1996 war das. Und auf die eine sollten noch viele Tauben folgen, zuletzt im vergangenen Jahr, als „Austerlitz“, Loznitsas spröde Schwarzweiß-Studie von Touristen, die Selfies in Konzentrationslagern knipsen, ebenfalls den Hauptpreis gewann.

Wie alles begann. 1963 firmierte das Festival - wie bei der Gründung 1955 - noch als Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche.
Wie alles begann. 1963 firmierte das Festival - wie bei der Gründung 1955 - noch als Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche.
© Wikemedia/Bundesarchiv, Bild 183-B1118-0016-007 / CC-BY-SA 3.0

Loznitsa verdankt, so sagt er, dem Leipziger Dokumentarfilmfestival seine gesamte Kinokarriere. Und mehr als das: „Festivals wie Leipzig sind die wichtigste Vertriebsmöglichkeit für unabhängige künstlerische Dokumentarfilme.“ Die wiederum erzählen in der Bilderflut digitaler Medienwelten unverbrüchlich vom Wunsch des Publikums, das Leben der Anderen zu sehen und bestenfalls sogar zu begreifen.

„Filme der Welt – für den Frieden der Welt“, „Filme der Welt – für die Würde des Menschen“, „Sehen, was wirklich los ist“, „The heArt of Documentary“ – das sind Slogans, mit denen Dok Leipzig schon mal für sich geworben hat. Allein am mal politisch- pathetischen, mal lakonischen und mal bemüht artifiziell-internationalem Touch dieser Mottos lässt sich die reiche Geschichte und auch zwiespältige Entwicklung des Festivals ablesen. Sie beginnt mit dem einzigen A-Filmfestival der DDR, als der Club der Filmschaffenden 1955 eine „Leipziger Filmwoche für Kultur- und Dokumentarfilm“ initiiert. Sie reicht bis zu der am Montag beginnenden 60. Ausgabe des inzwischen zweitgrößten Dokumentarfilmfestivals in Europa nach Amsterdam, neben Toronto und Nyon zählen sie zu den zehn wichtigsten weltweit. Das älteste ist Leipzig sowieso. Und wenn sich in diesem Jahr bei rund 340 Filmen aus 57 Ländern wieder knapp 50 000 Zuschauerinnen und Zuschauer tummeln, wird längst nicht mehr jeder der auffällig jungen Filmfans in Leipzig wissen, dass es 1993 nur gut 5000 Leute waren, die sich in der Stadt der friedlichen Revolution für künstlerischen Dokumentarfilm interessierten.

Aus Meißner Porzellan. So sieht die Goldene Taube des Dokumentar- und Animationsfilmfestivals Dok Leipzig aus.
Aus Meißner Porzellan. So sieht die Goldene Taube des Dokumentar- und Animationsfilmfestivals Dok Leipzig aus.
© Peter Endig/dpa-pa

Seit den sechziger Jahren war Dok Leipzig vieles gleichzeitig. Die propagandistisch genutzte Bühne eines sich nach außen weltoffen gebenden und nach innen die Filmauswahl immer stärker auf ideologische Linie bringenden Sozialismus, der das Publikum wie die Macher bespitzelte. Mit seinen Gästen aus Afrika, Lateinamerika, Asien, Europa aber auch ein Fenster zur Welt. „Es war nicht nur ein Festival, es war ein Fest!“, erinnert sich Tamara Trampe, die wegen fehlender Parteizugehörigkeit erst 1983 mit der Defa nach Leipzig durfte. Wilde Partys, heiße Debatten, aufregende Filme, das Stelldichein der großen Dokumentarfilmer Robert Flaherty, Joris Ivens, Chris Marker, Robert Leacock, Alberto Cavalcanti, John Grierson, Entdeckungen wie Michael Romms „Gewöhnlicher Faschismus“, die Filme ostdeutscher Dokumentaristen wie Jürgen Böttcher, Gitta Nickel, Volker Koepp oder Helke Misselwitz, die es kaum je ins Kino oder ins Fernsehen schafften.

Offizielle Festtagsreden und Debattenfreiheit jenseits der Zensur

Trampe hat all das genossen und sich weder von der allgegenwärtigen Stasi noch den Festtagsreden der Funktionäre verdrießen lassen. „In so einem Staat lernst du das doppelte Gesicht.“ Auch das Festival wurde zur Parallelwelt, wenn am frühen Morgen, nach Mitternacht oder auf den Trade-Show genannten Marktvorführungen kritische Filme jenseits der Zensur debattiert wurden.

Wie war Dok Leipzig gleich nach dem Fall der Mauer Ende November 1989, als die Parole der Montagsdemos sich langsam aber sicher von „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ wandelte und auf dem Festival eben diese Montagsdemos bereits im Film zu sehen waren, in Andreas Voigts „Leipzig im Herbst“? Tamara Trampe war nicht dabei, sie hatte Dringlicheres zu tun, sie drehte einen Film. „Der schwarze Kasten“ wurde der erste deutsche Film über das Täter-Leben eines Stasioffiziers, ihre erste Zusammenarbeit mit dem Kameramann und Regisseur Johann Feindt. 1983 hatten die Ost-Berlinerin und der WestBerliner Dffb-Absolvent sich in Leipzig auf dem Festival kennengelernt. Sechs Jahre später begann ihre Arbeitspartnerschaft, die bis heute andauert.

Internationaler Fahnenappell. Karossenauflauf bei der Preisverleihung im November Leipzig 1972.
Internationaler Fahnenappell. Karossenauflauf bei der Preisverleihung im November Leipzig 1972.
© Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 183-L1123-0025 / Raphael (verehel. Grubitzsch), Waltraud / CC-BY-SA 3.0

„Der schwarze Kasten“ erlebte seine Premiere auf der Berlinale. In Leipzig, wo man sich ab 1990 filmisch intensiv mit dem Wendeherbst befasste, wurde er abgelehnt. „Das Thema galt 1992 noch als Nestbeschmutzung“, sagt Trampe. Dennoch hat sie nicht gezögert, in den dornigen Nachwendejahren Filme für Dok Leipzig zu suchen, trotz zusammenbrechender Festivalstrukturen und Publikumsschwunds, mit Schlafsack in ungeheizten Buden untergebracht. Warum? Na, weil sie Kino und Dokumentarfilm liebt. „Leipzig bedeutete was!“ Filme mit humanistischer Gesinnung und starker künstlerischer Sprache. Für die Würde des Menschen und auch die der Filmkunst.

Die finden Ulrich und Erika Gregor, die auch diesmal wie jedes Jahr nach Leipzig reisen, heute noch auf dem Festival. Gregor, Jahrgang 1932, leitete 20 Jahre lang das Berlinale-Forum des Jungen Films, gemeinsam gründete das Ehepaar die Freunde der Deutschen Kinemathek und das Kino Arsenal. Bei seinem ersten Leipzig-Besuch 1956 war Ulrich Gregor noch Student. Später entstand eine rege Zusammenarbeit der West-Berliner Filmkunst-Aficidionados mit Leipzigs Festivaldirektoren wie Roland Trisch. Im Kofferraum ihres Volvos transportierten die Gregors jede Menge Filmrollen nach Leipzig und kamen mit Entdeckungen von Chile bis Japan zurück.

Bahnbrechende Experimentalfilme und politische Dokumentationen

Was sie dort für bahnbrechende Filme gesehen haben! Der Avantgardist Kenneth Anger schaffte es mit seinem Experimentalfilm „Scorpio Rising“ (1964) nach Leipzig und die Edward-Snowden-Recherche „Citizenfour“ (2014) von Laura Poitras feierte hier ihre Deutschland-Premiere. Der Geist des alten Dok Leipzig sei nach wie vor präsent, auch wenn die Funktion des Festivals sich nach dem Mauerfall völlig verändert habe, sagt Ulrich Gregor. Erika Gregor ergänzt: „Das Bewusstsein, dass man die Welt verändern muss, ist in Leipzig immer noch stärker als woanders.“

Eine Finnin in Leipzig. Festivalintendantin Leena Pasanen steht vor dem Plakatmotiv von 2016, am 5. November 2017 beginnt die 60. Ausgabe.
Eine Finnin in Leipzig. Festivalintendantin Leena Pasanen steht vor dem Plakatmotiv von 2016, am 5. November 2017 beginnt die 60. Ausgabe.
© Foto: Jan Woitas/dpa-pa

Da liegen die beiden ganz auf einer Linie mit der finnischen Direktorin Leena Pasanen, die jetzt ihr drittes Festival in Leipzig managt. Im Vorfeld hat es ein paar Querelen gegeben. Einmal um den von Protesten ostdeutscher Filmemacher begleiteten Rückzug der jahrzehntelangen Auswahlkommissionschefin Grit Lemke. Und um Finanzierungslücken, die die Stadt ausgleichen musste. Leena Pasanen bemüht sich mit Aktionen wie dem „Public Viewing“ in der Osthalle des Hauptbahnhofs um Publikumsnähe und zeigt in der technischen Innovationen gewidmeten Schiene „Dok Neuland“ neue Erzählformate wie Virtual Reality- oder 360-Grad-Filme.

Bei allem Ringen um internationale Konkurrenzfähigkeit will aber auch sie den speziellen Geist eines Festivals nicht missen, das im Kalten Krieg entstand und es trotz „heftigem Druck“ geschafft hat, „Ort des Dialogs zu sein“. Die Bedeutung dieser Historie für das Festival und die politische Landschaft heute ist denn auch Thema der Film- und Diskussionsabende, die die Jubiläumsausgabe dieses Wochenende einläuten.

Mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten bedrohen den künstlerischen Dokumentarfilm

Ähnlich wie der Hauptkonkurrent in der Branchengunst, das Amsterdamer Dokfestival IDFA, möchte auch Dok Leipzig einen Förderfonds für die Produktion und Stoffentwicklung von Dokumentarfilmen auflegen. Ein Wunsch, den der vorherige Direktor Claas Danielsen schon zum 50. Geburtstag hegte und der laut Leena Pasanen nun in einem Jahr umgesetzt werden soll. Das Problem des anspruchsvollen Dokumentarfilms sei es trotz schwindender Fernsehsendeplätze nicht, ein Publikum zu finden, sondern ihn zu finanzieren. „Dass die traditionellen Förderwege schrumpfen, neue aber noch nicht voll entwickelt sind, ist derzeit das größte Risiko für Qualitätsfilme.“

Höchste Zeit also für Dok Leipzig, dem Dokumentarfilmnachwuchs über den „Next-Masters-Wettbewerb“ hinaus eine Förderplattform zu bieten. Damit das Festival auch künftig Filme zeigen kann, deren Geschichten echt, unverwechselbar und experimentierfreudig von der Welt und den Menschen erzählen.

Dok Leipzig läuft vom 30.10. bis 5.11., das Jubiläumsprogramm „Now and Then, Then and Now“ hat am Freitag begonnen, Infos: www.dok-leipzig.de

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