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Der Film "Motherland" ist eine von 92 Dokumentationen auf der diesjährigen Berlinale.
© Ramona S. Diaz/CineDiaz

Berlinale-Start: Dokumentarfilme als neuer Trend

Sie leisten sich den Luxus der Geduld in rasenden Zeiten. Dokumentarfilme erleben im Kino einen Aufschwung. Bei der Berlinale werden sie erstmals mit einem eigenen Preis ausgezeichnet.

Vor leeren Stühlen hält eine einzige Abgeordnete tapfer dagegen. Ein Tag in der Hochphase der Griechenland-Krise: Im Parlament werden die Dekrete der Troika durchgepeitscht. Einstimmig angenommen, einstimmig angenommen, einstimmig angenommen. Die Abgeordnete kontert die endlose Litanei des Parlamentssprechers mit unzähligen wütenden Neins. Pervertierte Demokratie.

Die Szene erschließt sich erst über ihre Länge. 285 Minuten dauert die Dokumentation „Combat au bout de la nuit – Kampf am Ende der Nacht“, die nun auf der Berlinale gezeigt wird. Sie erzählt auch von den Putzfrauen, die das Athener Finanzministerium so lange belagerten, bis sie ihre Jobs wiederbekamen. Von Flüchtlingen auf Lesbos, den Ärzten, die ohne Bezahlung die Nichtversicherten behandeln, von Müllsammlern, Werftarbeitern und geräumten Roma-Camps. Es ist eine Reise in die europäische Finsternis. Kein 90-sekündiger Einspieler in den Nachrichten, kein Tweet, keine Push-Mitteilung kann das leisten.

Nicht nur in Europa, weltweit erleben Dokumentarfilme im Kino einen Aufschwung. Wenn am Donnerstagabend die Berlinale mit der Musikerbiografie „Django“ eröffnet wird, wenn wieder Besucher aus mehr als 120 Ländern anreisen, mehr als 300 000 Tickets verkauft und 399 Filme gezeigt werden, wird nun erstmals in der Geschichte des Festivals auch ein eigener Dokumentarfilmpreis vergeben. 16 Produktionen sind nominiert. Anders als die Goldenen und Silbernen Bären ist die Auszeichnung mit 50 000 Euro dotiert. Ein Novum bei den großen internationalen Festivals von Berlin, Cannes, Venedig. Und eine gute Gelegenheit, über das Genre nachzudenken, das seit jeher die wirkliche Wirklichkeit erkundet.

Dokumentarfilme sagen: Halt, stopp. Wir bleiben da, wenn der Medientross ein neues Aufregerthema entdeckt und die Kameras wegschwenken. Wir entschleunigen und leisten uns den Luxus der Geduld in rasenden Zeiten. Wir machen Nähe möglich, ohne aufdringlich zu sein. Wir halten auch mal die Stille aus. Oder die Wiederholung. Und dass einer ewig erzählt, sich verläuft in seiner Geschichte und nur deshalb auf die Wahrheit stößt.

Was heißt überhaupt Wahrheit, was heißt Wirklichkeit? Entsteht sie nicht erst mit unserer Wahrnehmung? Man nehme nur die Fotos, neulich nach der Vereidigung des US-Präsidenten: Fernsehsender zeigten zwei Luftaufnahmen. Eine mit einer prall gefüllten Meile vor dem Kapitol bei Barack Obama. Und eine vergleichsweise schüttere Menschenmenge bei Donald Trump. Aber was beweisen solche Bilder schon? Fotos können manipuliert werden. Wer wüsste das nicht in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten.

Dokumentarfilme gucken hinter die Bilder. Ist es überhaupt wichtig, wie viele Leute Trump zujubelten? Geht es nicht darum, sie kennenzulernen, ihnen nahezukommen, mit einem aufmerksamen, sorgfältigen Blick?

Einer wie Bo Gritz passt nicht ins Pro- Anti-Trump-Schema

Zum Beispiel auf einen wie Bo Gritz, Ex-Offizier der US Army Special Forces, hochdekorierter Vietnam-Veteran. 400 Menschen hat er nach eigenen Angaben getötet, der Actionheld Rambo geht auf ihn zurück. Zehn Jahre hat die Dokumentaristin Andrea Luka Zimmerman den heute 78-Jährigen begleitet, für ihren Film „Erase and Forget“, der im Panorama der Berlinale Weltpremiere feiert. Ein Patriot, der mit Orden behängt über die Waffenmesse spaziert, aber auch ein Anti-Golfkriegs-Aktivist, ein um die Jugend besorgter, nachdenklicher Amerikaner. So einer passt in kein Pro- und Anti-Trump-Schema.

„Gerade in den USA ermöglichten Dokumentarfilme schon immer Gegenöffentlichkeit“, sagt Claas Danielsen, der bis 2014 das Leipziger Dokfilm-Fest leitete und jetzt Chef der Mitteldeutschen Medienförderung ist. Man denke nur an Michael Moores „Bowling for Columbine“ oder seinen Bush-Film „Fahrenheit 9/11“, der weltweit 222 Millionen Dollar einspielte – die erfolgreichste Doku in der Geschichte des Genres. Auch Al Gores Klimawandel-Menetekel „Eine unbequeme Wahrheit“ wurde ein Millionenerfolg. Dokumentarfilme können Ereignisse sein. In den 80er Jahren veränderte Claude Lanzmanns „Shoah“ die Erinnerungskultur in Deutschland und Europa ein für alle Mal. Jüngeres Beispiel: Laura Poitras’ Porträt von Edward Snowden „Citizenfour“. Es erregte weit mehr Aufsehen als Oliver Stones Spielfilm über den Whistleblower. Die Oscar-Preisträgerin sitzt jetzt in der Jury für den neuen Berlinale-Preis.

Amateurvideos korrigieren heute offizielle Bilder

Heute sorgen Handy- und Amateurvideos für Gegenöffentlichkeit. Sie korrigieren die offiziellen Bilder, bezeugen, was verschwiegen werden soll, etwa im Arabischen Frühling. Das verändert den Dokumentarfilm. Mehr denn je kommt es auf Glaubwürdigkeit an, auf Verbindlichkeit. Wenn Bilder zur Propaganda missbraucht werden, kann der Dokumentarfilm verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. „Die Haltung des Regisseurs wird immer wichtiger, seine Aufrichtigkeit“, sagt Danielsen.

Für die Berliner Dokumentaristin Alice Agneskirchner kommt es auf Vertrauen an. Gegenüber den Protagonisten wie gegenüber dem Publikum. „Wenn ich die Kamera nur schnell irgendwo hinhalte, wird keine Geschichte daraus. Wir Dokumentaristen müssen aufpassen, dass wir mit unserer Präsenz nicht ebenjene Wirklichkeit zerstören, von der wir erzählen wollen.“ Es braucht viel Zeit, will man die realen Menschen nicht auf Typen, auf Rollen reduzieren.

Gründlicher, langsamer, nachhaltiger. Das bedeutet auch: Die Selbstausbeutung nimmt zu. Ein abendfüllender Dokumentarfilm kostet hierzulande zwischen 100 000 und 700 000 Euro, die Regisseure erhalten im Schnitt ein Drittel der Gage eines Spielfilm-Kollegen, wie der Interessenverband der deutschen Nonfiction-Produzenten, die AG Dok, ausgerechnet hat. Wenn die Geduld das Pfund ist, mit dem Dokus in der Ära von Youtube wuchern können, wird es noch schwerer, als Regisseur zu überleben.

Ohne Fördergelder sähe es finster aus

Es geht, meint Alice Agneskirchner, nur mit Beharrlichkeit, Durchsetzungsvermögen und der Fähigkeit, zwischen den 90-Minütern kleinere TV-Formate zu angesagten Themen anbieten zu können. Zumal die Öffentlich-Rechtlichen ihre Gebührengelder vor allem für Fußball, Unterhaltung und die Altersversorgung ihrer Mitarbeiter ausgeben. Die Jahre, in denen Dokumentarfilme rein senderfinanziert produziert werden konnten, sind schon lange vorbei. Ohne Fördergelder, ohne Mischfinanzierung, ohne den neuen Filmkulturtopf von Kulturstaatsministerin Monika Grütters sähe es noch finsterer aus.

Andres Veiel verzichtet in seiner Doku „Beuys“ auf Erläuterungen. Der Film läuft im Bären-Wettbewerb.
Andres Veiel verzichtet in seiner Doku „Beuys“ auf Erläuterungen. Der Film läuft im Bären-Wettbewerb.
© Arno Declair/zeroonefilm

Das sagen alle in der Branche: dass die Sender sich zurückgezogen haben. Zwar wirbt die ARD bei ihrer Berlinale-Veranstaltung „Top of the Docs“ mit 870 hauseigenen Produktionen allein 2015. Doch dazu gehören auch kurze Wetterreportagen, zur Primetime gibt’s allemal Krimis. Laut AG Dok fließen nur etwa 0,2 Prozent des Senderbudgets in Nonfiction-Produktionen. Arte, einst Hochburg für Arthouse und Dokus, schaffte seinen wöchentlichen Sendeplatz für abendfüllende Dokumentarfilme 2012 ab, jetzt sind es auch hier nur noch zwölf Termine pro Jahr.

Und im Kino? Es ist paradox, wie Thomas Kufus erläutert, einer der erfolgreichsten Dokumentarproduzenten in Deutschland. Mit Markus Imhoofs Bienen-Doku „More than Honey“ im Jahr 2012 brachte es seine Firma „zero film“ auf fast eine Million Zuschauer in ganz Europa, die Produktion verkaufte sich in mehr als 30 Länder. Kufus bemerkt weltweit eine höhere Anerkennung des Genres. Aber auch einen höheren Anspruch, mehr Emotionalität, mehr Unterhaltungswert, mehr production value. Oft ohne TV-Beteiligung. Die Doku hat sich auch so international durchgesetzt. Längst zeigen die großen Festivals sie in der umkämpften Wettbewerbsschiene, sie gewinnen Löwen, Palmen oder den Goldenen Bären wie 2016 „Fuocoammare – Seefeuer“. Nächste Woche läuft Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ im Berlinale-Wettbewerb. Entstehungszeit: vier Jahre, über ein Jahr brachten zwei Cutter im Schneideraum zu. Veiel, der sich mit Filmen wie „Die Überlebenden“ und „Black Box BRD“ einen Namen gemacht hat, betont die Bedeutung des Dokumentarfilms gerade heute: „Sich mit viel Zeit und gründlicher Recherche der Realität in all ihrer Widersprüchlichkeit zu nähern, ist kein Luxus, sondern ein existenziell notwendiges, unverzichtbares Kulturgut.“

Die Haltung der Filmemacher ist wichtiger denn je

Wer Dokumentarfilme dreht, tut es nicht aus Profitinteresse, glaubt auch Dokumentaristin Agneskirchner. Es ist ein Herzblutberuf. Weil man in die Lebenswirklichkeit aller Menschen hineingehen kann, sagt Agneskirchner. Weil es eine hohe, beglückende Kunst ist, die Realität erzählerisch zu verdichten, sagt Produzent Kufus. Wegen der Intensität, mit der man die Konsequenzen politischer Entscheidungen für den Einzelnen und die Gesellschaft betrachten kann, sagt Filmförderer Danielsen. Weil die Wirklichkeit die verrücktesten Geschichten schreibt, meint Thomas Frickel, Geschäftsführer der AG Dok. Weil es heute nicht auf Meinung ankommt, sondern auf Haltung, sagt Veiel.

Die Zeit des Purismus ist vorbei. Der Dokumentarfilm ist experimentierfreudig geworden: Nebeneinander existieren die Reportage, das Porträt, das unkommentierte Cinema Verité, die Langzeitbeobachtung, Eventformate wie „24 Stunden Berlin“, die Mockumentary, 3-D-Produktionen wie Wim Wenders’ „Pina“, crossmediales Erzählen mit Internet-Auskopplungen – und bald auch die Vrtual-Reality-Doku. Hinzu kommen hybride Formen mit Spielfilmelementen und Animationen, bei denen sich die Frage der Authentizität besonders dringlich stellt. „Ein guter Dokumentarfilm“, sagt Frickel, „enthält immer dramaturgische Elemente.“ Weil schon die Gegenwart einer Kamera die Gegenwart verändert. Und spielt nicht jeder von uns eine Rolle? Welche Familie, welcher Arbeitsablauf ist bitte schön frei von theatralen Ritualen, welcher Alltag, welche Liebe frei von Inszenierung?

92 Dokumentarfilme präsentiert die Berlinale, Non-Fiction aus allen Kontinenten. Erkenne dich selbst, vergiss dich auch mal selbst, im Bild des Anderen. In einer Psychiatrie in China, einer Geburtsklinik in Manila, bei einem uralten Volksstamm im Atlasgebirge. Andres Veiels „Beuys“Film verzichtet vollständig auf Erläuterungen. Eine ganz neue Offenheit.

Es kommt nicht darauf an, die Welt zu erklären. So wie die Populisten dieser Tage das tun und mit Vereinfachungen den Blick verengen. Frei gucken können, ohne Filter Bubble, Erzählmuster und Meinungsverstärker, es ist wichtiger denn je.

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