zum Hauptinhalt
Verloren. Die im Bürgerkrieg verwundete Arlette ist Protagonistin von „Cahier Africain“. Die Doku von Heidi Specogna erhielt die erstmals vergebene Silberne Taube für Demokratie und Menschrechte.
© Dok Leipzig/Heidi Specogna

59. Dokfilmfestival in Leipzig: Die Zukunft im Iglu

Digital, real, animiert - und animierend: So war das Dokfilmfestival Leipzig, das an diesem Sonntag zu Ende geht.

Die Zukunft ist schon da. In Leipzig, in einem Iglu, der sich am Rand des weiten Marktplatzes in den Schatten des Alten Rathauses duckt. Die weiße Plastikbeule ist die Spielstätte von Dok Neuland, der Avantgardisten-Sektion des Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, dessen 59. Ausgabe an diesem Sonntag zu Ende geht. An sechs Stationen lässt sich hier an Rechnern meist angetan mit Brillen und Kopfhörern erleben, wie das interaktive Storytelling der digitalen Welt künftig aussieht.

Das geht ganz harmlos los – mit „Phallaina“, einer „Scrolling Graphic Novel“, also einem mit Soundeffekten untermalten, vertikal wischbaren Comic, dessen einfache Parallax-Effekte eine erstaunliche räumliche Wirkung erreichen. Auch die Web-Dokumentation „The Sandmine“ über ein Massaker an italienischen Zwangsarbeitern 1943 im brandenburgischen Treuenbrietzen ergänzt die traditionellen Mittel des dokumentarischen Erzählens vergleichsweise sanft – mit gemalten Sequenzen und eingefügten Links zu individuell auswählbaren weiterführenden Interviews. Spektakulär ungewohnt ist dagegen das Anschauen der beiden 360-Grad-Filme „Life to Come“ und „Traumzwang“. Angetan mit dem Virtual-Reality-Headset wähnt man sich bei Ersterem in der Subjektive eines Frühchens auf einer Geburtsstation und im zweiten, wahrhaft schwindelerregendem Zwanzigminüter in der Welt des Berliners Oscar. Der leidet unter Agoraphobie, also Platzangst, was während der Attacken zu eigenartigen Wahrnehmungsverschiebungen der Stadt führt. Dreht man den Kopf, verändert sich der Bildausschnitt, hebt und senkt man ihn, blickt man in himmelhohe Höhen und gähnenden Tiefen. Hier gibt es keinen Grund mehr zum Stehen. Hui fährt der Magen jetzt Fahrstuhl. Bloß gut, dass jeder Zuschauer auf einem Hocker platziert wird.

Das ist klassisches dokumentarisches Erzählen, nur in sinnlicherer Form

Und doch ist „Traumzwang“ keine circensische Geisterbahnfahrt, sondern „klassisches“ dokumentarisches Erzählen vom Leben und Empfinden eines Menschen, nur in einer sinnlicheren, den Zuschauer stärker involvierenden Form. Diese stärker in den Fokus zu rücken, ja sie mitten unter die Menschen auf den Marktplatz zu bringen, ist eine der Innovationen, mit denen sich die finnische Festivaldirektorin Leena Pasanen im vergangenen Jahr in Leipzig eingeführt hat. Die Neugierde, mit der vor allem junge Menschen in der vergangenen Woche die Filmstationen im Iglu belagert haben, spricht dafür, dass es klappt. Auch wenn der Auswahl von sechs interaktiven Werken bislang noch 300 traditionelle Dokus gegenüberstehen, ist es richtig, die interaktiven Formate für den künstlerischen Dokumentarfilm zu kapern, statt sie allein der Games- und Porno-Industrie oder dem Medizin-Lehrfilm zu überlassen.

Verliebt. Der Held des Animationsfilms „My Life as a Courgette“ von Claude Barras
Verliebt. Der Held des Animationsfilms „My Life as a Courgette“ von Claude Barras
© Dok Leipzig/Claude Barras

Pasanens diesjährige Novität hat bei Puristen einiges Stirnrunzeln ausgelöst. Im wichtigsten Wettbewerb, dem für den langen Dokumentar- und Animationsfilm, hat sie erstmals einen fiktiven animierten Langfilm zugelassen, ja das weit über Deutschland hinaus als ungeschminkter Spiegel der Welt wirkende, ehrwürdige Festival gar damit eröffnet. „My Life as a Courgette“ (Mein Leben als Zucchini) von Claude Barras ist ein bewegender, subtil erzählter, ästhetisch zauberhafter Stop-Motion-Puppenfilm. Er erzählt die universelle Geschichte eines Waisenjungen, der sich im Kinderheim behaupten muss. Und doch: Lässt sich dieses poetische, mit einem stilisierten Kindchenschema großer Köpfe und Kulleraugen operierende Drama wirklich mit den elf Realfilmen vergleichen, die um die Goldene Taube konkurrieren?

Durchaus, sagt die Festivaldirektorin im Gespräch. Die narrative und visuelle Qualität, die Figurenzeichnung, all das sei bei Dokumentar- wie bei Animationsfilmen sehr wohl vergleichbar. Pasanen will den Animationsfilm aus der Nebensache-Ecke des Festivals holen: „Animationen zeigen uns die Realität manchmal sogar schärfer.“ Sie ist überzeugt, dass sie die künstlerische Qualität des Dokumentarfilms voranbringen. Eins allerdings sei wichtig, sagt die Gegnerin von Mockumentaries und Fake-Dokus: „Das Publikum muss wissen, was wahr ist.“

Die Wahrheit ist immer schwieriger zu erkennen

Doch das ist selbst bei traditionellen Dokumentationen immer schwieriger zu erkennen. Auch unter den Regisseuren sind Dokfilm-Puristen eine Seltenheit, die die Tugenden des Cinéma vérité glauben und ohne künstlerischen Schnickschnack die wirklich wahre Wahrheit abbilden wollen. Sogar ein dem Alltagsrealismus der polnischen Dokumentarfilmschule verpflichtetes Familienporträt wie „Communion“ von Anna Zamecka arbeitet mit Grauzonen.

Die ungemein dicht erzählte Geschichte der 14 Jahre alten Ola, die ihrem autistischen Bruder Nikodem die Mutter ersetzt, während Vater Marek lieber in der Kneipe hockt, zeigt nichts als ungeschminktes Leben: Armut, Suff, zerbrochene Familien und kindliches Heldentum. Einmal streiten Vater und Tochter in der Küche, während Nikodem in der Badewanne sitzt und eine seiner autistischen Wahrheiten ausspricht: „Die Wirklichkeit wird Fiktion.“ Spätestens da drängt sich der Eindruck der Inszenierung auf. Beim anschließenden Gespräch klärt Regisseurin Anna Zamecka auf, dass sie die zu unterschiedlichen Zeiten gedrehten Badewannen- und Streitszenen zusammengeschnitten hat. „Schneideraum-Zauber“ nennt sie das. Auch das ist die Wahrheit der Dokumentation.
Und ein stets mit reduzierten Mitteln arbeitender Meister, der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, gewinnt mit „Austerlitz“ die Golde Taube. Die in strengem Schwarzweiß gehaltene Doku zeigt in statischen Bildern die uniformen Ströme, stets mit sich selbst mehr als mit dem Ort beschäftigter Touristen in Konzentrationslagern.

Verlaufen. In Sergei Loznitzsas mit der Goldenen Taube dekorierten Doku "Austerlitz" werden KZ-Touristen zum uniformen Strom.
Verlaufen. In Sergei Loznitzsas mit der Goldenen Taube dekorierten Doku "Austerlitz" werden KZ-Touristen zum uniformen Strom.
© Dok Leipzig/Sergei Loznitsa

Ola, Amzine, Arlette, Hailin, Roken und Soolaf – das sind nur einige der jungen Frauen, deren Gesichter und Schicksale sich tief einbrennen. Nicht nur die hohe Zahl der Filme von Regisseurinnen, sondern auch die vielen weiblichen Lebensgeschichten prägen das Festival. Die Schweizerin Heidi Specogna stellt eine Muslimin und eine Christin in den Mittelpunkt von „Cahier Africain“. Die beeindruckende achtjährige Spurensuche unter Bürgerkriegsopfern in der Zentralafrikanischen Republik erhält die erstmals vergebene Silberne Taube des besten Films für Demokratie und Menschenrechte.

Der Iraner Behrouz Nouranipour setzt in „A 157“ dem Leid zweier Schwestern und ihrer Freundin ein machtvolles Denkmal. Der Filmtitel bezeichnet die Nummer des Zelts der 11, 13 und 15 Jahre alten Mädchen in einem Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze. Die Väter ermordet, die Mütter verschleppt, mühen sich die drei Jesidinnen in Wintermatsch und Bergeskälte ums Weiterleben. In ihren Leibern wachsen Babys des IS-Terroristen heran, der alle drei versklavte. Schwer anzusehen, diese Wirklichkeit. Wie muss es da erst sein, sie auszuhalten?

Zur Startseite