Anthropozän in den Kulturwissenschaften: Wir sind nur Gast auf Erden
Wie die Idee des Menschen zwischen Natur und Kultur verschwimmt: Das "Menschenzeitalter" Anthropozän erobert die Kulturwissenschaften.
„Wo heute Natur ist“, schreibt Robert Walser schon 1907, „sind auch Eisenbahnen.“ Das ist ein erstaunlicher Gedanke. Erstaunlich, weil er zusammenführt, was üblicherweise als Gegensatz gehandelt wird: Natur und Maschinentechnik. Zugleich zeigt Walsers Eisenbahn, wie Technik in die Natur eingreift: Tunnel durch Berge bohrt, Brücken über Schluchten spannt, hügelige Ebenen begradigt. Diese „Korrekturen am Erdboden“, wie der Pionier der deutschen Technikphilosophie Ernst Kapp sie nannte, sind aber weit mehr als ein Kratzen an Oberflächen.
Menschliches Handeln, gestützt auf Wissenschaft und Technik, greift ein in die Geologie der Erde. Es geht ans Eingemachte: Klimawandel und Verlust der Artenvielfalt bei Ressourcenknappheit und großen Migrationsbewegungen – so lauten zentrale Stichwörter des 21. Jahrhunderts. Erst sprachen Naturwissenschaftler vom Anthropozän, dem „Menschenzeitalter“. Mittlerweile macht das Konzept auch in den Kulturwissenschaften Karriere. In den Jahren 2013/14 widmete ihm das Berliner Haus der Kulturen der Welt einen umfangreichen Schwerpunkt und veröffentlichte bei Matthes & Seitz einen Sammelband zum Thema. Inzwischen sind viele weitere kluge Bücher erschienen.
Möglicher Beginn des Anthropozän um 1800
Wann dieses neue Zeitalter begonnen hat, ist umstritten. Es gibt gute Gründe, es auf das Neolithikum zu datieren, das Sesshaftwerden des Menschen samt Ackerbau und Viehzucht – oder auf die Atombombentests, die nachweislich Spuren in den geologischen Schichten hinterlassen haben. Ein vorzügliches Plädoyer für den Beginn des Anthropozän um 1800, mit Einsetzen der Industriellen Revolution, liefert eine Ausgabe der „Zeitschrift für Kulturwissenschaften“ zur „Romantischen Klimatologie“. Hier erfährt man, wie das natürliche Klima um 1800 als Kulturprodukt wahrnehmbar wurde.
Das lässt sich etwa an den Gemälden William Turners ablesen: Fabrikschornsteine, Lokomotiven und Schiffe speien Feuer und Rauch in die Atmosphäre und verdunkeln den Himmel. Zugleich existiert bereits ein klares Bewusstsein von Rückkoppelungseffekten: Montesquieu nahm an, dass das Klima Mentalitäten oder gar Regierungsformen beeinflusst – umgekehrt unterstützt die „Kraft des Menschen die Kraft der Natur“, wie Georges-Louis Leclerc Buffon schreibt. Menschliche Aktivität, meinte Buffon, wirke der allmählichen Abkühlung und Vereisung der Erde entgegen. Erderwärmung galt hier noch als Rettung.
Grenzen zwischen Natur und Technik verschwimmen
Erstaunlich ist auch, dass die Zukunft der Erde schon vor 200 Jahren als „plot without man“ vorstellbar war. Dass unsere Gattung verschwinden könnte, ohne dass die Erde verschwindet, lenkt den Blick auf alles, was mit uns existiert: Tiere, Pflanzen, Maschinen – die als Akteure ins Weltgeschehen eingreifen können. Eine Nummer der Onlinezeitschrift „Philologie im Netz“ (PhinN) beschäftigt sich mit solchen „Entwürfen posthumaner Interaktion", die den Menschen aus seiner Zentralstellung verdrängen.
Literatur, Film und bildende Kunst verfügen über ein beachtliches Wissen von der Nichtexklusivität des Menschen und spielen Szenarien durch: In Friedrich de la Motte Fouqués „Undine“ ziehen Elementargeister die Fäden, sprechende Tiere bevölkern (nicht nur) die Kinderliteratur, und ohne R2-D2 und C-3PO wären „Star Wars“-Helden oft aufgeschmissen. Diese posthumanen Welten zeigen nicht zuletzt, dass Grenzen zwischen Natur und Technik oft nicht eindeutig bestimmbar sind.
Wie reagiert die Literatur auf den neuen Stand der Dinge?
Ein Mensch mag in seiner Einzigartigkeit und Endlichkeit sehr biologisch bestimmt sein – seine Hand am Smartphone jedoch ist die Schnittstelle zu einer Technosphäre, in der er Bestandteil von Kommunikationsnetzen ist und seine Daten in die Clouds sendet. Vielleicht muss dieser Mensch künftig als Naturmaschine gedacht werden?
Interessant ist die Frage, wie Literatur auf diesen neuen Stand der Dinge reagiert. Gibt es schon Poetiken des Anthropozän? Andreas Weber untertitelt seinen Essay „Enlivenment“ immerhin mit „Kultur des Lebens“ und „Versuch einer Poetik des Anthropozän“. Das Buch ist ein typischer Band aus der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ im Hause Matthes & Seitz Berlin: solide Aufmachung, praktisches Format, jede Menge Ideen und steile Thesen, die Reibung erzeugen (wollen).
Redundantes Raunen
Weber wettert darin gegen einen optimierungswütigen „Bioliberalismus“, den er als unheilvolle Kombination aus Neodarwinismus und Neoliberalismus beschreibt. Seine Wurzeln lägen in der Rationalität der Aufklärung. Ohnehin sei es ein fehlgeleiteter Prozess der Aufklärung, der zur wissenschaftlich gestützten Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche und einer Körpervergessenheit geführt habe, die uns der Natur entfremde.
Dann schwadroniert Weber von einem „Adel des Seins“, der aufsteht gegen die „kontrollierende Objektivität der Effizienz“. Und die Poetik? Ganz einfach: „Die poetische Dimension ist die Dimension unserer organischen Existenz, die wir verleugnen.“ Lebendige Körperlichkeit also verbürgt das Poetische. Und was heißt Leben? „Leben heißt voller Leben sein.“ Aha. Redundantes Raunen könnte man das nennen. Hier wird viel gefühlt und moralisiert, für eine Poetik des Anthropozän lernen wir wenig.
Das Raumschiff Erde besitzt kein "Da-Draußen"
Da liefert Daniel Falb mit seinen Überlegungen zur „Dichtung in der Gegenwartsgeologie“ wesentlich mehr und besser geordnetes intellektuelles und poetologisches Material. Falb zeichnet zunächst Genealogien der Anthropozän-Dichtung und ihre möglichen Parameter nach. Der amerikanischen Ecopoetry wie der deutschen Ökodichtung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings wirft er vor, ein grünes „Da-Draußen“ zu imaginieren, also Natur als ein Anderes zu denken, anstatt „Erscheinungsformen des Drin-Seins“ zu erforschen, weil das „Raumschiff Erde“ kein „Da-Draußen“ besitzt.
Man könnte es ein integratives Natur-Technik-Unternehmen nennen. Deswegen muss Dichtung, die sich mit dem Anthropozän konfrontiert, Anschluss finden an die zeitgenössische Wissensproduktion, an Medien, die das Anthropozän erst sichtbar machen: Graphen, Statistiken, Karten. Ohne Quantifizierung, so Falb, gibt es keine Anthropozän-Dichtung. Die Wissenschaft, die Technik, die Zahl und nicht zuletzt die Politik – alles muss hinein in die Literatur.
Alles scheint Anthropozän zu sein
Die Probe aufs Exempel liefert die soeben von Anja Bayer und Daniela Seel herausgegebene Anthologie zur „Lyrik im Anthropozän“. Falb selbst ist vertreten und verdichtet Wissenschaft – bis eine Kommunikationsabsicht des Gedichts kaum noch erkennbar ist. Insgesamt schreiten die Texte ein weites Spektrum aus: von Geologie über Konsum und Klima bis zum wissenschaftlichen Klassifizieren und Archivieren. Hier eine Industrielandschaft, da Trauerarbeit an verschwundenen Umwelten. Es gibt viel Symptom und wenig Synthese – aber die ist nicht Aufgabe der Lyrik.
In vielen guten Fällen lassen sich die Unsicherheit unseres Wissens über das Kommende, das hierarchiefreie Nebeneinander und die Grenzverwischung zwischen den Sphären von Natur und Kultur erkennen. Nicht immer ist klar, wie die teils erratischen Texte das Bild des Anthropozän konturieren sollen. Alles scheint Anthropozän zu sein – doch das ist nicht falsch. Vor allem aber lohnt es sich, alles nachklingen zu lassen. Manchmal nämlich spricht das Gedicht auch Klartext, wie bei Gerald Fiebig: „das, was auf uns zukommt, wird nicht für uns da sein / wenn wir nicht mehr sind“.
Neuerscheinungen:
Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.): Romantische Klimatologie. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 1/2016. Transcript, Bielefeld. 145 S., 14,99 €.
Mensch – Maschine – Tier. Entwürfe posthumaner Interaktionen. Hg. von Christa Grewe-Volpp und Evi Zemanek. 164 S. Online: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft10/b10i.htm.
Andreas Weber: Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 153 S., 12€.
Daniel Falb: Anthropozän. Dichtung in der der Gegenwartsgeologie. Edition Poeticon #9. Verlagshaus Berlin 2015. 46 S, 7,90 €.
Anja Bayer, Daniela Seel (Hg.): All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Anthologie. Kookbooks und Deutsches Museum München 2016, 333 S., 22,90 €.
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