William Turner: In der Ferne ein gleißendes Licht
Originalgenie mit Wahlverwandtschaft: War William Turner weniger ein Avantgardist als ein Traditionalist? Die National Gallery in London sieht seine künstlerischen Wurzeln im Werk von Claude Lorrain. Aber Ausstellungen in Margate/Kent und im Frankfurter Städel zeigen auch: Originalgenies waren beide - und Turner mit seiner Faszination für die industrielle Revolution allemal ein Vorbote der Moderne
Der überwiegende Teil des Nachlasses von Joseph Mallord William Turner (1775–1851), des bedeutendsten englischen Malers des 19. Jahrhunderts, bildet den Grundstock der Londoner Tate Gallery. Einige exquisite Gemälde besitzt allerdings auch die National Gallery – auf Turners Wunsch. Er wollte, dass zwei antike Landschaften gemeinsam mit Gemälden seines großen Vorbilds Claude Gellée gezeigt werden, genannt Claude oder Le Lorrain (um 1600–1682). So wird es bis auf den heutigen Tag gehalten.
Warum Turner diese Nachbarschaft suchte, ist dem heutigen Publikum jedoch nicht mehr durchweg bewusst. Claudes Werke bildeten im 18. Jahrhundert den Maßstab für Landschaften sowie antike und mythologische Szenen. Von englischen Sammlern wurden sie gesucht, gehortet und stolz gezeigt. Auch Turner, ein überaus ehrgeiziger junger Mann von einfacher Herkunft, orientierte sich an Claudes Œuvre, besonders zu Beginn seiner staunenswerten Karriere und auch später immer wieder einmal.
Diese Wahlverwandtschaft nimmt die National Gallery in London zum Anlass ihrer Frühjahrsausstellung „Turners Inspiration. Im Lichte Claudes“. Für ein englisches Publikum bietet die Kombination von einem Dutzend Gemälden Claudes mit knapp 50 Arbeiten Turners in Öl oder Wasserfarben keine wirkliche Überraschung, wie an der distanzierten Reaktion der Medien abzulesen ist. Für auswärtige Besucher indessen, die mit Claudes idealen Landschaften weit weniger vertraut sind, ist diese Lesart Turners ungewohnt, wird der Künstler doch weniger als traditioneller Maler denn stets als begeisterter Chronist der Industriellen Revolution und ihrer neuartigen Maschinen vorgestellt. Zudem gilt er als Proto-Impressionist, manchen gar als Wegbereiter der Abstraktion.
Tatsächlich aber wollte Turner mit Szenen wie „Narziss und Echo“ (1804) glänzen, eng angelehnt an Claudes „Landschaft mit Narziss und Echo“ (1644). In seiner Frühzeit kopierte Turner sogar unmittelbar, etwa Claudes bis auf den Zentimeter formatgleiche „Landschaft mit Psyches Vater“ (1662) oder die „Landschaft mit der Ankunft von Aeneas vor Pallantium“ (1675), die der junge Engländer in der berühmten, nach nur 18 Jahren bereits wieder zerfallenen Fonthill Abbey des Exzentrikers William Beckford besichtigen durfte. Bis heute werden sie in einem vom National Trust gehüteten Privathaus aufbewahrt.
Allein wegen dieser beiden Meisterwerke – für die Beckford 1799 einen der damals höchsten Preise für Kunst bezahlte – lohnt sich der Besuch in London. Turner faszinierte das Thema vom Aufstieg und Niedergang großer Reiche, etwas, das der von Napoleon bedrohte und isolierte, aber nie ernsthaft gefährdete Inselstaat jahrelang quasi vor der Haustür verfolgen konnte. Gleichzeitig war es Turner über Jahrzehnte unmöglich, den Kontinent und das ersehnte Italien besuchen zu können. In seinen Gemälden wählt er sich als gleichnishaften Ort Karthago, von Dido erbaut (1815) und alsbald im Abstieg begriffen (1817).
Auffällig ist das derzeitige Interesse an Claude Lorrain. So ist die von der Fachkritik hochgelobte Ausstellung des Oxforder Ashmolean Museum zum gesamten Œuvre Claudes, „Die verzauberte Landschaft“, ins Frankfurter Städel weitergereist und kann den französischen Italien-Maler als einen Künstler zeigen, der wie kein Zweiter das Genre der Landschaft zur Blüte führte. Das ist umso erstaunlicher, als die Belebung seiner Gemälde mit den Figuren der dargestellten biblischen und historischen Ereignisse meist nicht recht glückt. Die Figuren bleiben, wie kaum sonst in der Kunstgeschichte, bloße Staffage. Sie haben allerdings ihre Notwendigkeit: Denn gerade in ihrer statuarischen Ruhe unterstreichen sie die vollkommene Harmonie der Natur – einer zur idealen Landschaft geronnenen Natur, die Claude als Bühnenprospekt vor dem Betrachter ausbreitet.
Künstlerisch übernimmt Turner von Claude nur anfangs die bühnenhafte Tiefenstaffelung und bevorzugt die Frontalstellung der Sonne, aus der der Jüngere ungeheure malerische Effekte gewinnt. Nicht zu übersehen ist in London auch der Hang zur Dramatisierung und Übertreibung, zur Darstellung von Naturphänomenen, die sie sich beim besten Willen so ausdrucksstark dem Auge nicht bieten. Das hat seine Ursache auch darin, dass Turner auf das Absolute der Natur zielte, auf die vier Elemente, aus denen er sie in antiker Tradition zusammengesetzt sah.
{Wetter- und Wolkenstudien: Meisterhaft beherrschte Turner die Palette der Natur}
„Turner and the Elements“ heißt denn auch die Ausstellung, die das 2011 eröffnete Ausstellungshaus Turner Contemporary in Margate an der Ostküste Kents zeigt und damit nun erstmals seinem Namenspatron huldigt. Diese in die Kapitel Erde, Wasser, Feuer, Luft und Fusion gegliederte, vom Hamburger Bucerius Kunstforum erarbeitete und von dort nach England gewanderte Ausstellung empfiehlt sich als Ergänzung und Gegengewicht zum etwas trockenen kunsthistorischen Exkurs in London.
In den vier Elementen ist vor allem der späte Turner buchstäblich in seinem Element, mit seinen wilden Farbschichtungen, seinen heftigen Pinselschwüngen und dem gleißenden Kolorit. Daneben sind die wundervollen Aquarelle mit ihren Verknappungen realer Motive und den zu einer einzigen Farbfläche verdichteten Wetter- und Wolkenstudien zu sehen. Ein Höhepunkt in Margate – in dem Ort schuf Turner über 100 Gemälde und Aquarelle – ist das Gemälde „Schneesturm – Dampfschiff vor einer Hafeneinfahrt“ von 1842, weil sich dem Maler hier der Kontrast der kühl-blauen Palette der Natur und des heißen Rots des Maschinenfeuers auf dem Raddampfer bietet. Ähnlich kreist das Hauptstück der Londoner Ausstellung, „Hafenarbeiter liefern Kohle in der Nacht“, eine Szene aus dem nordenglischen Industrierevier am Tyne-Fluss von 1835, um die Industrialisierung. Kühler Mondschein und offenes Feuer, dazwischen schemenhaft die Kohlenschipper in ihren Bargen, das ist ganz im Sinne Turners, der sich immer wieder extremen Seherfahrungen aussetzte. Ein Naturforscher mit dem Gerät des Künstlers.
Sein Spätwerk löste bei seinen Betrachtern Ratlosigkeit aus – wenn es denn zu Lebzeiten überhaupt publik wurde, was etwa für die Aquarelle nicht zutrifft. Die klassische, von Claude selbstverständlich eingehaltene gestaffelte Komposition mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund löst sich bei Turner früh schon in ein All-over auf, in dem Regen, Gischt und Dampf die Oberhand gewinnen. Da hat die National Gallery denn doch zwei Trümpfe zu bieten. „Die letzte Fahrt des Kriegsschiffs ,Temeraire’“ von 1829 und die Ikone „Regen, Dampf und Geschwindigkeit“ von 1844 hängen in der ständigen Sammlung und zeugen davon, dass der Einfluss Claudes auf Turner groß, aber eben doch nicht überwältigend und schon gar nicht ausschließlich war.
Beide Bilder sind Zeugnisse der Industrialisierung, nicht bloß in ihren Errungenschaften wie Dampfschiff oder Eisenbahn, sondern in der Beziehung des Menschen zur Natur wie auch im reflexiven Verhältnis zur Geschichte. Das im Auge zu behalten ist entscheidend; auch dafür erweist sich die „Elemente“-Schau in Margate als hervorragende Blickschulung. Turner ist und bleibt ein Künstler ganz aus eigenem Recht, einer der größten dazu.
London, National Gallery: „Turner Inspired“ bis 5. Juni, Katalog 25 Pfund. Margate, Turner Contemporary: „Turner and the Elements“ bis 13. Mai, Katalog 30 Pfund (deutsche Ausgabe von 2011 vergriffen). Frankfurt/Main, Städel Museum: „Claude Lorrain“, bis 6. Mai, Katalog bei Hatje/Cantz, deutsch od. englisch, 34,90 €.
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