Interview mit Kulturstaatssekretär Tim Renner: „Wir brauchen Neuanfänge, keine Kopien“
Zeit für eine Bilanz: Was hat Tim Renner geschafft, wie sieht er die Berliner Kultur in der Zukunft, wo liegen die Probleme? Ein Gespräch mit dem Kulturstaatssekretär, der vor zwei Jahren aus der Musikindustrie in die Politik wechselte.
Herr Renner, Sie sind jetzt zwei Jahre im Amt, die Legislaturperiode geht zu Ende, im September wird in Berlin gewählt. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Wir haben in der kurzen Zeit viel erreicht, einiges gesichert und so manches verändert, auch wenn vor uns noch ein Berg an Arbeit liegt. Kulturstaatssekretär ist ein spannendes Amt mit viel Gestaltungsmöglichkeit. Bereut habe ich die letzten zwei Jahre dennoch regelmäßig...
Das war nicht die Frage. Aber was haben Sie denn bereut?
Morgens wenn der Wecker um halb sieben schellt, damit ich um acht Uhr im Berliner Rathaus bei Michael Müller bin, denke ich neidisch an die anderen in der Kulturszene, die um diese Zeit natürlich noch selig schlafen. Die sieht man dann abends hellwach im Theater oder bei allen möglichen Veranstaltungen, während man selbst gegen die aufkommende Müdigkeit kämpft …
Sie wollten Bilanz ziehen ...
Ich möchte zuerst die erwähnen, ohne die ich nicht Bilanz ziehen kann. Die Kulturverwaltung entpuppte sich für mich als Überraschung; sie ist hervorragend, wenig bürokratisch. Die Mitarbeiter sind fachlich sehr gut und emotional engagiert. Wir machen keinen Straßenbau, sondern betreuen Emotionen. Das färbt ab. Als Team haben wir erst mal für die nötigen Ressourcen gesorgt. Der Kulturhaushalt für das kommende Jahr wurde um 11 Prozent erhöht.
Das war ja wohl nicht so schwierig, Sie haben die Unterstützung von Michael Müller.
Es ist schon seit über neun Jahren so, dass der Regierende Bürgermeister auch das Amt des Kultursenators innehat. Aber weder Klaus Wowereit noch Michael Müller hätten je ihr Amt missbraucht und die Kultur im Hauptausschuss durchgepaukt. Ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Können Sie die Unterschiede von Müller und Wowereit beschreiben, sofern es um die Arbeit im Kulturressort geht?
Beide sind sehr kulturinteressiert. Müller hat sich schnell hineingefunden und hatte im Übrigen in seinen Funktionen als Fraktionsvorsitzender und Stadtentwicklungssenator vielfältige Anknüpfungspunkte. Wowereit war schon lange in dem Thema drin, als ich kam. Für die Kollegen in der Kulturverwaltung war das sportlich – erst den Renner einarbeiten, dann den Müller…
Was war Ihre größte Herausforderung?
Bei uns kommen mit großer Kraft die positiven und negativen Auswirkungen der Globalisierung an. Auch und gerade in der Kultur. Unsere Stadt ist nun ein globaler Sehnsuchtsort. In New York, Paris oder London werden die Kreativen, die Künstler verdrängt. Diese Menschen kommen nach Berlin, weil das Leben hier noch erschwinglich ist und so attraktiv. Das ist eine riesige Chance. Mit ihnen müssen wir die Zukunft neu denken und der neuen Rolle als Melting Pot Europas gerecht werden. Angelockt hat sie laut Untersuchungen vor allem die Kultur.
Dieser Wandel betrifft erst einmal den Wohnungsmarkt, hier wird es auch teurer, es betrifft den Verkehr, den Arbeitsmarkt. Was bedeutet es für die Kultur in Berlin?
Wir erleben eine zunehmende Internationalisierung. Es liegt ein anderer Anspruch auf unserer Kultur. Der Rest der Welt schaut staunend auf Berlin und hofft und erwartet, dass dieses große Experiment gelingt. Nehmen Sie das Maxim Gorki Theater mit Shermin Langhoff oder die Komische Oper mit Barrie Kosky. Da spielt nicht mehr die klassische Hochkultur. Dort öffnen sich die Ensembles und die Erzählweise, so wie wir es aus dem Pop und Rock kennen. Viele Menschen aus unterschiedlichsten Gegenden der Welt identifizieren sich damit.
Klassische Hochkultur – die gibt es doch gar nicht mehr.
Es gibt sie schon noch, aber sie öffnet sich immer mehr. Aber nicht alles überzeugt. Als Hochkultur verstehen manche auch heute noch das perpetuierte Theater der 70er und 80er Jahre. Wenn zum Beispiel in einer „Woyzeck“-Aufführung plötzlich und unvermittelt „Smoke on the Water“ aus scheppernden Lautsprechern kommt, ist das keine Verbindung von unterschiedlichen Kulturen, sondern ein missverstandener, uralter Zadek-Effekt.
Sie kommen aus der Privatwirtschaft, der Musikindustrie: Wie viel Politik und Regulierung braucht die Kultur?
Kulturpolitik muss Orte schaffen und erhalten. Es geht um den Erhalt von Freiräumen und Möglichkeiten. Sie stellt Etats zur Verfügung. Sie übt Einfluss aus durch Personalpolitik, durch die Besetzung von Leitungsposten. Da darf man in einer Stadt, die sich derart bewegt und verändert, die Kontroverse nicht scheuen.
Sie haben arg unterschätzt, wie stark der Krach um das Ende der Ära Castorf an der Volksbühne ausfallen würde, wie sehr gestritten wurde um die Berufung von Chris Dercon zum Nachfolger von Castorf.
Mich hat nicht die Intensität, aber der Zeitpunkt überrascht. Als wir Castorfs Vertrag nochmals um ein Jahr verlängerten, dachte ich, jetzt bricht es über uns herein. Nichts geschah. Dann tauchte dummerweise der Name Dercon gerüchteweise auf und es wurde scharf geschossen – allerdings von Claus Peymann, nicht von Castorf. Und ich habe den Fehler gemacht, die latente Angst vor Veränderung in der Theaterszene zu unterschätzen.
Im Moment ist es in der Angelegenheit ruhig. Die Ruhe vor dem letzten Sturm?
Es hält sich lediglich das Gerücht, der Wechsel koste fünf Millionen Euro. Das ist Unsinn. Für den Abschied von Castorf und die Vorbereitung von Dercon stehen über vier Jahre 2,3 Millionen Euro zur Verfügung.
Auch das ist keine kleine Summe – und ein Novum.
Das halte ich bei einer grandiosen Figur wie Frank Castorf für gerechtfertigt. Ein Jahrhundertregisseur für diese Stadt! Da kann es auch nur einen radikalen Neuanfang geben, keine Kopie.
Oder man ließe Castorf bis zur nächsten Eiszeit an der Volksbühne.
Die Volksbühne kommt aus 25 Jahren Kontinuität. Selbst der tollste Typ kann sich und das Haus nicht ewig erneuern, und Frank Castorf ist ein absolut außergewöhnlicher Typ, auch als Intendant.
"Berlin und die Freie Szene - das ist wie bei den Eltern und den Teenagern"
Laufen wir mal durch die Stadt, zu den Schauplätzen, an denen sich Kulturpolitik manifestiert. Am Berliner Ensemble lief der angekündigte Wechsel von Claus Peymann zu Oliver Reese geräuschlos.
Da ist Peymann einfach zu clever. Der kann warten und weiß sich zu inszenieren, auch wenn er sich für andere aufregt.
Und wie sieht es bei Ulrich Khuon am Deutschen Theater aus?
Sein Vertrag läuft bis 2019. Da muss man erst ab 2017 Gespräche führen.
Das heißt, das Thema Deutsches Theater gehen Sie dann im nächsten Jahr an?
(lacht) Sie implizieren, dass ich weitermachen kann und will.
Ja, und?
Wenn es sich so ergibt, dass mein Chef es will und man weiter guten Gestaltungsspielraum hat, dann rede ich 2017 auch über das Deutsche Theater.
Dann machen Sie also weiter?
Mich reizt an der Berliner Kultur der Aufbruch – wir bauen uns eine neue Stadt, um einen Song von Palais Schaumburg zu zitieren. Berlin hängt eng mit seiner Kultur zusammen, Kultur ist hier eine Querschnittsaufgabe. Wir haben dieses Gefühl mit unserer Arbeit in den zurückliegenden 24 Monaten noch verstärkt. Man muss diese Veränderungen lustvoll angehen, auch wenn es, wie im Fall Volksbühne, kommunikativ manchmal schwierig ist. Bei Paul Spies war es ganz anders. Schon ist er da, der neue Chef. Die Stiftung Stadtmuseum nimmt Fahrt auf.
Reden wir über die Freie Szene. Sie geben dahin mehr Geld, aber es scheint nie genug zu sein, so schnell, wie die Szene wächst.
Es liegt in der Natur der Sache, dass es schwierig ist, die Freie Szene glücklich zu machen. Es ist wie bei den Eltern und den Teenagern. Die Szene muss maximale Forderungen stellen, und denen können Sie nicht in Gänze nachkommen. Andererseits spürt sie auch als Erste die steigenden Kosten der wachsenden Stadt. Sie ist als Mitverursacherin des Booms doppelt betroffen: Es sind vor allem Kreative, die nach Berlin strömen, und die Konkurrenz wird immer größer und der Platz wird knapp. Freie Kultur braucht Plätze, an denen sie sichtbar ist und produzieren kann. Freie Szene definiert sich durch das Wort „frei“, also nicht in Institutionen eingebunden.
Die Szene ist kaum überschaubar, sehr heterogen, von der One-Man-Show bis zu einem Unternehmen wie dem Radialsystem. Wie lässt sich das überhaupt bewerten?
Es ist nicht unser Job zu bewerten, sondern zu ermöglichen. Ermöglichen bedeutet aber nicht eine Kulturpolitik, die sich darauf beschränkt, möglichst viele Kunstschaffende nur mit Geld auszustatten. Die Freie Szene hat gemein, dass sie auf Zeit und Flächen für Experimente angewiesen ist. Da ist also der Underground, und wir machen den Deckel auf, kippen etwas Geld rein und machen die Klappe wieder zu? Ist das die richtige Politik? Ähnliches begegnet einem beim Boulevardtheater am Kurfürstendamm und in Steglitz. Das Publikum schrumpft und wächst in den vorhandenen Strukturen nicht ausreichend nach. Die Interessen der jüngeren Bevölkerung verändern sich. Die Frage lautet: Wie sieht ein Boulevard aus, der dem heutigen Berlin entspricht, gern auch am Kurfürstendamm?
Alter Boulevard als neuer Underground?
Ich schätze den Boulevard. Das Gorki Theater hat ja auch seine Boulevardseite. Das sind die Experimente, die wir brauchen. Wo definiert sich Berlin neu? Wo wird es aufregend? Wir müssen darüber nachdenken, wie das Kindertheater in Zukunft aussehen soll – ich meine Theater für Kinder, nicht für Eltern oder Lehrer. Ein Theater, das Kindern zuhört und ernst nimmt. Wo finde ich den neuen Volker Ludwig, das neue Grips Theater?
Das sind ästhetische Fragen, die ein Politiker im Grunde nicht entscheiden kann.
Das sind Fragen, die Kulturpolitik stellen und den Platz für Antworten an ihren institutionell geförderten Häusern ermöglichen muss. Man kann dazu auch durch Intendantenentscheidungen beitragen, denn Experimente erfordern Mut. Antworten finden wir auch im Underground. Dort suchen wir per definitionem nach neuen Formen, die im Idealfall uns etablierte Menschen wie Sie und mich verwirren, aufschrecken. Unsere Aufgabe ist es, diese Ansätze zu unterstützen und recht schnell in den Kulturbetrieb zu integrieren. Wir müssen in diesem Prozess darauf achten, dass die Künstler dabei nicht an Grenzen stoßen, dass nicht sie und ihre Ideen absorbiert werden und sie sich selbst nicht mehr unabhängig weiterentwickeln können. Ist das nicht auch ein bisschen das Problem einer Sasha Waltz, die einst aus der Freien Szene in Berlin kam? Sie ist im Establishment angekommen. Aber so lange sie nicht eine Institution wird, kommt sie nicht wirklich weiter. Sie wird überall gefeiert und gerne weltweit an die Häuser eingeladen, kann in der Unabhängigkeit aber nicht einmal das eigene Ensemble halten.
Sasha Waltz hätte das Staatsballett Berlin übernehmen können. Doch dazu kam es nicht, vielleicht wollte sie auch nicht. Die Chance, das Staatsballett neu auszurichten, wurde in der Wowereit-Zeit vertan. Nun sieht es mit Nacho Duato dort eher flau aus. Was wollen Sie unternehmen?
Wir haben gewisse Anforderungen an das Staatsballett. Die drei Opernhäuser, die Orchester dieser Stadt, die Sprechbühnen spielen national und international ganz oben mit, und auch vom Staatsballett ist das zu erwarten.
Gehen wir zu einer anderen Bühne, dem Humboldt-Forum. Wie wird sich Berlin in seinem Ausstellungsteil präsentieren?
Ich hatte einen ersten kurzen Einblick in die Vorarbeiten von Paul Spies. Es wird um die Themen gehen, über die Berlin und die Welt sich entwickelt haben. Das Humboldt-Forum muss funktionieren, es liegt in der Mitte der Stadt, ein riesiger Bau, dazu braucht es einen substanziellen Berliner Beitrag. Wir werden liefern.
Ins Humboldt-Forum sollte ursprünglich eine Dependance der Zentralen Landesbibliothek einziehen. Nun war das gesamte Projekt ZLB gefährdet. Hat es überhaupt noch eine Chance?
Der ursprünglich schnell gefundene Standort auf dem Tempelhofer Feld hat sich erledigt. Der Rechnungshof hat das Verfahren verständlicherweise moniert. Jetzt prüfen wir sorgfältig andere Standorte und werden noch vor der Wahl einen Vorschlag machen. Wir haben vier Orte im Blick, zum Beispiel die Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek oder einen Neubau auf Teilen des Marx-Engels-Forums. Inzwischen reden wir über ganz andere, automatisierte Storage-Systeme für Bücher; wir brauchen also nicht so viel Platz und sind flexibler.
Wie laufen die Verhandlungen zum neuen Hauptstadtkulturvertrag mit dem Bund?
Wir hoffen auf einen Abschluss vor der heißen Wahlkampfphase. In vielen Kernfragen sind wir uns einig.
Machen Sie eigentlich auch Wahlkampf für die SPD?
(lacht) Mal sehen, ob der Regierende mir meinen Sommerurlaub genehmigt. Ich bin nicht in der Partei aufgewachsen, ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber Kultur ist natürlich ein spannendes und wichtiges Thema für Berlin, wenn man bei einer Wahl die Menschen fragt: Wollen wir auf dem Weg einer offenen, wachsenden Stadt weitergehen? Wollen und können wir Berlin weiterentwickeln, ohne den Einzelnen in der Entwicklung zu beschränken? Wollen wir eine linke, neugierige Kulturpolitik?
André Schmitz, Ihr Vorgänger, war grundsätzlich eher traditionell orientiert, siehe Staatsoper oder Schloss.
Er hat erst einmal vieles stabilisiert, durchaus Heritage-bewusst, sich dann aber in Neues hineingewagt. Das ist der richtige Weg, den wollen wir fortsetzen. Man muss die Vergangenheit nicht negieren, aber man soll sie nicht nachbauen. Geschichte verstehen heißt nicht, Geschichte kopieren. Dinge einfach nur zu wiederholen betrachte ich als einen Akt mangelnden Respekts. Denn der, der es vor mir erfunden hat, hat es besser erfunden. Berlins Stärke ist die Veränderung und die damit verbundene Freiheit.
Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.