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Günter Papendell (Jewgeni Onegin), Asmik Grigorian (Tatjana).
© Iko Freese

"Jewgeni Onegin" an der Komischen Oper Berlin: Man liebt nur einmal

Traum von der russischen Seele: Barrie Kosky inszeniert „Jewgeni Onegin“ an der Komischen Oper als Wald- und Wiesendrama.

Was kommt uns als Erstes in den Sinn, wenn wir an Russland denken (Putin jetzt mal ausgenommen)? Sind es wirklich die urbanen Zentren, die Weißen Nächte in St. Petersburg, der Rote Platz in Moskau? Oder nicht viel eher das Gefühl einer nie endenden Weite, die Provinz, in der mehr Birken wachsen, als ein Mensch je zählen kann? Die russische Seele, sie sehnt sich zwar die ganze Zeit, um mit Tschechow zu sprechen, „nach Moskau“, aber sie ist auf dem Land zu Hause. Wie Tatjana, das von Puschkin so zärtlich gezeichnete Mädchen, dessen gerade knospende Liebe ausgerechnet auf Eugen Onegin trifft, den arroganten Kosmopoliten aus der Hauptstadt, der auf die Welt von seiner eingebildeten Höhe herabschaut, ohne dass ihm dabei viel durch den Kopf ginge – vor allem nicht, sich eine Ehe ans Bein zu ketten.

Russische Landschaft ist an der Komischen Oper reichlich vorhanden. Fast meint man, das frisch gemähte Gras noch zu riechen. Eine veritable Wiese hat Bühnenbildnerin Rebecca Ringst für Barrie Koskys Inszenierung von Tschaikowskys „Jewgeni Onegin“ bauen lassen, mit neckisch wogenden Hügeln und einem Wäldchen im Hintergrund, der Dampf des frischen Morgentaus hängt noch in der Luft.Doch was für ein Realismus ist das, wie ernst ist er gemeint, was verbirgt er? Gibt es unter diesen Erdkrumen Hohlräume, Gräber? Wo sind die Innenräume, befinden wir uns nicht auf einem Gutshof? Wer meint, hier würde Wirklichkeit gezeigt, ist Kosky schon auf den Leim gegangen. Das Bühnenbild ist reines Gefühl, Assoziation, Poesie. Natur als Metapher für Seele. Denn „Jewgeni Onegin“ ist Gefühlsdrama, sonst passiert hier nichts, es gibt keine Fürsten, Könige, Götter oder Erlöser, nur vier junge Menschen, verstrickt in ihren Empfindungen. Und einen, der nicht merkt, wie das Glück an ihm vorübergeht.

Kosky platziert seine Darsteller in diese Kulissen wie niederländische Meister ihre Figuren im Gemälde. Auch die knöchellangen Blumenröcke der Frauen (Kostüme: Klaus Bruns) lassen keinen Gedanken ans 21. Jahrhundert aufkommen. Ein Szenario, in das der sehnsuchtsvolle, von Wehmut und tiefem Weltwissen durchzogene Mezzo von Margarita Nekrasova als Haushälterin Filippewna markant einschneidet. Gemeinsam mit Gutsbesitzerin Larina (Christiane Oertel) kocht sie Marmelade ein. Es sind genau diese scheinbar banalen, alltäglichen Szenen, denen Koskys Interesse gilt. Weil sie den Nährboden von Tschaikowskys Oper bilden und in ihrer Summe zur Katastrophe führen. Nekrasova ist eine der russischen Gastsolisten, die diese Premiere besonders authentisch wirken lassen. Denn hier wird in der Originalsprache gesungen.

Tatjana ist schutzlos, als ihr in Gestalt Onegins die Liebe ihres Lebens entgegentritt

Weil Tschaikowsky Puschkins Stoff radikal zusammengestrichen hat, avancierte Tatjana zum Zentrum der Oper. Auch Asmik Grigorian ist Gastsolistin. Anders als ihre muntere, das Leben umarmende Schwester Olga (Karolina Gumos) trägt sie das Kleid nur zugeknöpft, vertieft und verliert sich in Büchern, ist schutzlos, als ihr in Gestalt Onegins plötzlich die Liebe ihres Lebens entgegentritt. Auch wenn Grigorians Sopran zu stählern, zu dramatisch ist für diese zarte Mädchengestalt und erst im zweiten Teil, wenn sie zur Frau gereift ist, wirklich passt – darstellerisch berührt sie. Weil sie spürbar macht, wie das war oder ist in jenen flüchtigen Jahren an der Schwelle zum Erwachsensein, wenn alles noch Empfindung und Ahnung ist, nicht Reflexion und Begreifen. Weil sich Tatjana körperlich verzehrt in der Briefszene, in der sie alles niederschreibt, was ihr an Gedanken zu einem Menschen in den Kopf schießt, den sie doch kaum kennt.

Kosky lässt seine Sängerin einsam im Spotlight stehen. Und so kreiselt Tatjana um sich selbst, kritzelt ins Notizbuch, verstreut die Zettel im Gras, dreizehn Minuten lang, eine ganze Nacht. Schreiben als Austreibung, als Loswerden und doch Festhalten, wie nah ist das am Leben! Und lässt nicht Don Giovanni, ganz am anderen Ende der Skala, Leporello dasselbe tun, wenn er ihm befiehlt, alle seine Frauen in ein Register einzutragen?

Günter Papendell hat einen furchterregend irren, an den Joker aus „Batman“ erinnernden Don Giovanni an diesem Haus gesungen, in der Inszenierung von Herbert Fritsch. Jetzt ist er, als Onegin, ein Verführer völlig anderer Art. Einer, der gar nicht mitkriegt, was er für Verheerungen anrichtet, weil er zu beschäftigt damit ist, sich den Scheitel glatt zu streichen. Sein flutender, mächtiger Bariton spricht eine andere Sprache: Hier ist einer, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat, der vielleicht gar nicht weiß, dass er welche hat.

Aleš Briscein bringt als Freund Lenski, den Onegin im Duell ermorden wird, einen kristallklaren Tenor mit, der aber in seiner Glattheit substanzlos wirkt. Christoph Späth singt Triquet als alternden, leicht angeschickerten Dandy, Alexey Antonov verschenkt als Gremin seine eigentlich herrliche Bass-Arie. Zwiespältig auch das, was aus dem Graben dringt. Henrik Nánási ist ein Durchpeitscher, der möglichst schnell von einem Höhepunkt der Partitur zum nächsten sausen möchte. Ein Tempo, das gut ankommt in den Massen- und Ballszenen. In anderen Momenten nimmt es der Musik die Luft zum Atmen, macht sie eng und uninteressant. Verdeckt mit dickem Filzstift, welche Wunden und Verletzlichkeiten sich unter dem funkelnden Klang verbergen.

Einmal sehen wir doch einen Innenraum, kurz nach der Pause: ein klassizistischer Saal für Gremins Ball. Aber reale Mauern haben in dieser Oper, wo so viele psychische Barrieren im Weg liegen, keine Chance. Die Kulissen werden nach wenigen Minuten zerlegt, Natur kehrt zurück. Und mit ihr Tatjana und Onegin, in vertauschten Rollen. Wollte er sie erst nicht anfassen, kriecht er jetzt auf dem Rasen vor ihr.

Und sie, jetzt im flammend roten Kleid: diese peinigende Leidenschaft, die sie immer noch für ihn empfindet! Welche unmenschliche Anstrengung muss es sie kosten, ihm zu entsagen. Zurück bleibt bleierne Leere und ein in der Erkenntnis Gebrochener. Dem man trotzdem nicht wirklich einen Vorwurf machen mag, dass er im entscheidenden Moment blind war.

Wieder 3., 6., 26. und 28. Februar, im März und Juli.

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