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Musikerinnen und Musiker des DSO beim Fensterkonzert vor der Seniorenresidenz „Haus am Weinberg“ in Berlin-Mitte.
© Peter Adamik

Klassik jenseits der Konzertsäle: Wenn Musiker auf die Straße gehen

Das Deutsche Symphonie-Orchester beglückt die Berliner mit Überraschungskonzerten im Stadtraum.

Das Spreeufer an der East Side Gallery ist kein Ort, der für klassische Konzerte bekannt wäre. Eher für die Auftritte von Popstars in den großen Glitzerhallen des angrenzenden architektonischen Entertainmenteinheitsbreis, der immer entsteht, wenn sich großes Kapital am Städtebau versucht. Konzerte finden aktuell natürlich keine statt.

Am Pfingstsonntag lümmeln einige Hundert Menschen am Wasser und träumen sich an die Côte d'Azur, hauptsächlich Berliner und einige wenige innerdeutsche Touristen. Einer hält es nicht mehr aus, rennt los, lässt sich in den Fluss plumpsen, nimmt einige Züge, steigt klitschnass wieder an Land, wo er vom Applaus der Kumpels und einem Hund begrüßt wird.

Plötzlich wehen tatsächlich Flötenklänge ans Ohr. Ein Floß näher sich der Ufermauer, legt an, ein knalliges rotes Transparent prangt an der Seite: „Berlin braucht Musik“, mit Ausrufezeichen. Das Ganze wirkt wie eine Fata Morgana. Lautsprecherverstärkt erklingt das Holzbläserquintett von Jean Françaix, gespielt von Martin Kögel (Oboe), Jörg Petersen (Fagott), Ozan Çakar (Horn), Frauke Ross (Flöte) und Bernhard Nusser (Klarinette).

Alle fünf sind Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO). Die Leute am Ufer sind kurz irritiert, aber auch freudig verblüfft, Handykameras werden gezückt, einige applaudieren. Viel Zeit haben die Künstler nicht. Das Floss kann nicht lange verweilen, es darf keine größeren Menschenansammlungen verursachen.

Die paar Minuten reichen schon aus, um die Sehnsucht nach live gespielter Musik ins Unerträgliche anwachsen zu lassen. Bis mindestens 31. Juli sind alle Theater- und Konzertauftritte in Berlin untersagt, viele nicht staatlich geförderte Initiativen und Freischaffende vom finanziellen Genickbruch bedroht.

Bis zum Reichstag und zurück

Dass Musik, wie Kunst überhaupt, kein kein Luxus ist, den sich eine Gesellschaft leistet, wenn sie das Geld dazu übrig hat, sondern ein menschliches Grundbedürfnis: Daran soll diese Aktion erinnern. Die am Morgen an der Strahlauer Halbinsel gestartet war, mit einer anderen Besetzung und Dvoráks Streichquintett. „Es ist ein Appell: Konzerthäuser und Theater sollen öffnen, sobald es epidemiologisch vertretbar ist“, erklärt DSO-Orchesterdirektor Alexander Steinbeis.

Bis zum Reichstag und zurück ist das Floß geschippert. Und schon am Samstag waren DSO-Musiker und -Musikerinnen mit einem Bus in der Stadt unterwegs, spielten auf dem offenen Oberdeck, am Breitscheidplatz, am Pariser Platz, am Gendarmenmarkt sowie vor Seniorendomizilen.

Die Staatskapelle spielt in Hinterhöfen

Auch die Berliner Staatskapelle hat sich übrigens ein Freiluftformat ausgedacht: Unter dem Motto „Wenn Sie nicht zu uns kommen können, kommen wir zu Ihnen“ konnten sich Hausgemeinschaften für Hofkonzerte bewerben. Die Musikerinnen und Musiker werden in Friedenau, Prenzlauer Berg, Charlottenburg, Moabit, Mitte, Schöneberg, Kreuzberg und Charlottenburg auftreten.

Wenn es der Wind zulässt, sollen DSO-Mitglieder am Dienstag auch noch im Heißluftballon an der Wilhelmstraße aufsteigen. Die Idee: Kunst ist immer und überall existenziell, zu Lande, zu Wasser, in der Luft. Alles immer unangekündigt, damit sich niemand versammelt. Eine Geste, eine Überraschung, ein Moment des Innehaltens.

Auf der Oberbaumbrücke habe sich ein Ehepaar mit Enkelkind sehr über das plötzliche Erscheinen des Floßes gefreut, erzählt DSO-Pressesprecher Benjamin Dries. Der Großvater ist seit 20 Jahren Theaterarzt. „Er weißt genau, wie schlimm die derzeitige Situation für viele ist.“

Hilfe für freiberufliche Künstler

Anderswo applaudieren Passagiere vom Ausflugsboot aus, wenn ihnen das Floß entgegenkommt. „Anarche“ heißt es und ist normalerweise zu Demonstrationen oder Konzerten unterwegs. „Wir wollen damit auf Verdrängung und Verschwinden von Freiräumen im Spreebereich aufmerksam machen“, erzählt Aorel Eschmann vom „Freibeuter“-Kollektiv, das das Floß 2013 gebaut hat.

Zwei gegensätzliche Welten vereinigen sich, denn klassische Musik hat – zumindest dem Empfinden vieler Menschen nach – hohe Zugangshürden. Heute aber haben DSO und Freimeuter dasselbe Ziel: Unterstützung für bedrohte Menschen. „Berlin braucht Musik!“ soll in Zusammenarbeit mit der Bürgerstiftung Berlin und Kulturfluss e. V. auch auf die Notlage freier Musikerinnen, Techniker, Beleuchterinnen oder Veranstaltungshelfer aufmerksam machen und um Spenden für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung werben.

An der East Side Gallery legt die „Anarche“ jetzt wieder ab, mit Kurs Treptower Park. Auch für die Bläser an Bord ist es toll, wieder spielen zu können. Wegen des befürchteten hohen Aerosolausstoßes sind sie zusammen mit den Chören am brutalsten von den Corona-Maßnahmen betroffen.

Jetzt, auf dem Floß, spielen sie mit Abstand zueinander, das Publikum ist weit entfernt an Land. Während die „Anarche“ entschwindet, erklingt eine ganz besondere, für Bläser arrangierte Wassermusik: das berühmte Thema aus Schuberts „Forellenquintett“.

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