Berliner Originale: Mit dem Floß gegen den Strom
Das Wasser als urbaner Freiraum – das ist die „Anarche“ in der Rummelsburger Bucht. Ein Plüschpanda ist das Sprachrohr der Crew.
Kurz vor dem Ablegen, das ist der schönste Moment. Die Stimmung ist dann jedes Mal voller Erwartung. Ein bisschen hektisch, aber das habe er eigentlich ganz gern, sagt der Panda. Der Mast muss noch aufgerichtet werden, die Lautsprecheranlage wird getestet, aber dann, erzählt er weiter, sobald der Motor läuft und sich das Floß langsam und erhaben vom Ufer der Halbinsel Stralau hinaus auf die Rummelsburger Bucht bewegt, fällt mit einem Mal die ganze Anspannung ab. „Ich halte vorne als Galionsfigur Ausschau, die Crew steht hinter dem Steuerrad – und gemeinsam blicken wir nach vorne, hinaus auf das weite Wasser. Denn das ist unser Revier geworden.“
Die „Anarche“ ist eine freie Plattform, erklärt der Panda, und zwar auf dem Wasser. „Auf dem Land wäre etwas Vergleichbares nicht mehr möglich.“ Freiflächen würden dort immer mehr weggentrifiziert. Hier auf dem Wasser haben die Freimeuter – so nennt sich die Crew – schließlich einen Raum erschaffen, der nicht von Privatisierung bedroht ist.
Kommerz hat hier nichts verloren
Seit zwei Jahren fährt die 15 Meter lange „Anarche“ auf Berlins Gewässern umher. Alles an ihr ist selbst gebaut. Als Unterkonstruktion dienen zwei Ostseepipelines aus Stahl. „Die sind für die Ewigkeit“, beteuert der Panda. Der Aufbau wurde aus Holzlatten zusammengezimmert. Um das alles zu finanzieren, hat die Gruppe viele Soli-Partys organisiert. Auf dem Floß selbst gibt es eine Bar und zwei Oberdecks. Und immer ist etwas zu tun, damit das Floß in Schuss bleibt.
Die „Anarche“, erklärt der Panda, der jetzt den Blick nicht mehr vom Wasser lässt, ist ein Raum zum Träumen. Viele unterschiedliche Gruppen nutzen sie. Nicht für Geburtstagspartys oder Junggesellenabschiede. Das Floß soll für kulturelle, politische und auf jeden Fall nichtkommerzielle Anliegen einen Raum bieten. Der Panda zählt auf: Es gab schon etliche Demos auf dem Wasser, an denen sich die „Anarche“ beteiligt hat, am vergangenen Wochenende etwa die große Aktion für den Kohleausstieg vor dem Berliner Vattenfall-Kraftwerk. Hinzu kommen auch Theaterstücke, Konzertausfahrten und Fahrten mit Flüchtlingsklassen.
„Wir sind jetzt gut in Form“, sagt der Panda, „der Motor ist neu und das Oberdeck ist frisch abgedichtet.“ Das sei wichtig, schließlich übernähmen sie ja die Verantwortung für die Menschen, die mitfahren. Bis zu 80 Leute plus Crew könne die „Anarche“ fassen. Der Panda klingt sehr stolz, wenn er so erzählt.
Die Bucht - ein Platz für alle
Es gehe den Freimeutern vor allem darum, eine Alternative zu den Ausflugsdampfern zu bieten. „Wir wollen zeigen, dass dieser Raum für alle da ist.“ Was immer mehr zum Problem für sie werde, das seien die Liegeplätze, erzählt der Panda. Die Uferflächen würden nämlich, genau wie die Wohnungen auf dem Land, privatisiert und seien kaum noch bezahlbar. Der Zugang zum Wasser könnte für die Crew in Zukunft also schwieriger werden. Im Moment ist davon aber noch nicht viel zu spüren: Immer mehr Flöße liegen in der Bucht vor Anker. Auf ihnen sieht man umgebaute Gewächshäuser, zusammengezimmerte Hexenhäuschen und aus Einkaufswagen geschweißte Hollywoodschaukeln. Einmal im Jahr treffen sich die Berliner Floß-Crews. Bis zu 300 Menschen sind es dann, die sich auf ihren schwimmenden Inseln aneinanderbinden und so ein riesengroßes Neuland bilden. Dann nimmt der Begriff „Freifläche“ eine ganz andere Dimension an.
Piratenleben in der Großstadt
Die Crew der „Anarche“ trifft sich jede Woche einmal zum Plenum. Die 25 bis 30 selbsternannten Piraten haben ganz verschiedene Hintergründe. Ob Student oder Anwalt, ob Grafiker oder Arzt – sie alle vereint eine Sache: die Sehnsucht nach Freiheit und Ungebundenheit, nicht weit weg, sondern hier in der Stadt.
Auf dem Plenum entscheiden sie, welche Veranstaltungen stattfinden, wer welche Reparaturen übernimmt und wer sich zum Beispiel um die Versicherung kümmert. „Etwas wie die ,Anarche‘ geht eigentlich nur mit einer so großen Gruppe“, sagt der Panda. Jeder einzelne lernt von Anfang an die Handgriffe auf dem Floß – denn die müssen sitzen, vor allem beim An- und Ablegen – und jeder entscheidet mit. Von Anfang an. Und ab und zu macht die „Anarche“-Crew dann auch mal eine Betriebsfahrt, zum Beispiel zu Festivals wie der „Fusion“ inmitten der mecklenburgischen Seenplatte.
Der Panda hält während der Plenumsversammlungen die Stellung, hier in dem kleinen Hafen von Stralau. Kinder kommen vorbei und zeigen mit leuchtenden Augen auf die „Anarche“. Und es stimmt schon, sie ist ja auch ein bisschen so was wie ein wahr gewordener Kindheitstraum. Da – der Panda am Bug hat doch gerade genickt, nur ganz leicht, aber doch deutlich, fast so, als wollte er sagen: „Auf zu neuen Ufern! Holt euch das Wasser zurück.“
Aktuelles und Piratenkodex unter www.anarche.noblogs.org
Von den Autorinnen erschien bereits: „111 Berliner, die man kennenlernen sollte“ (Emons Verlag, 230 Seiten, 16,95 Euro). Nun begeben sich Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel für uns auf die Suche nach noch mehr Berlinern. Bisher unter anderem erschienen: Lizzy Scharnofske, das lebende Schlagzeug - Andreas Zadonai, ein Bäcker der alten Schule - Sinan Simsek, der Buchhändler vom Kotti -Gudrun Schmidt, die Seifenmeisterin aus Friedrichshain - Hanns-Lüdecke Rodewald, der Professor mit dem Moos-Auto -Britt Kanja, Lebenskünstlerin mit einer Vision - Nidal Bulbul, Kriegsreporter und Cafébesitzer am Görli - Helmut Millan, der Rikschafahrer vom Tiergarten.