Kunst in der Krise: Was es bedeutet, alle Konzerte abzusagen
Opernsängerin Simone Kermes hat durch Konzertabsagen viel Geld verloren. Sie fürchtet, die Coronakrise könnte die Kulturlandschaft dauerhaft schädigen.
Bei Simone Kermes zu Hause stapeln sich die Eintrittskarten für ein Konzert, das nie stattgefunden hat. „Inferno e Paradiso“ heißt das Programm, mit dem die Sopranistin im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin aufgetreten wäre, zusammen mit ihrem Orchester, den Amici Veneziani.
Es waren 500 Tickets verkauft, knapp die Hälfte des Möglichen. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass die Coronakrise zuletzt schon ihre Schatten geworfen hatte. Außerdem wäre an der Abendkasse bestimmt noch einiges passiert. Wer weiß.
Simone Kermes’ Konzert ist natürlich abgesagt worden, wie alle Kulturveranstaltungen derzeit. Was die Künstlerin nicht deswegen hart trifft, weil ihr die Gage und der sichere Jubel entgangen wären, das könnte ein Klassik-Star ihres Formats vergleichsweise locker wegstecken.
Nein, Kermes war auch selbst Veranstalterin des Abends. Das ist der Grund, weswegen die Tickets, die eigentlich am Konzertabend auf die Kurzentschlossenen gewartet hätten, jetzt in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte liegen. Und weswegen sie den gesamten Vortag damit verbracht hat, mit der Plattform Eventim zu telefonieren, um das Stornierungs-Prozedere zu klären.
Was, wenn Kunden ihre Tickets nicht zurückgeben, sondern auf einen neuen Termin warten wollen? Wer bleibt am Ende auf der Vorverkaufsgebühr in Höhe von 1,35 Euro sitzen, die Eventim für jede Karte erhebt? Erstattet wird sie nicht. Aber trägt Kermes die Verantwortung? Sie hat das Konzert ja gar nicht selbst abgesagt, das war die Philharmonie. Viele Fragen sind noch offen.
„Ich habe vor einem halben Jahr begonnen, alles zu organisieren“, erzählt Kermes. Die international gefragte Koloratursopranistin genießt in der Klassikbranche bekanntlich einen Paradiesvogelruf. Aber sie ist eben auch eine toughe sächsische Geschäftsfrau, die mal Sekretärin gelernt hat und die Dinge gern selbst in die Hand nimmt.
Im Frühjahr 2019 hat sie ihr erstes eigenes Konzert veranstaltet, einen Händel- Abend im Berliner Kammermusiksaal. Freunde erklärten sie damals für verrückt und prophezeiten ihr die Pleite. Am Ende lag die Auslastung bei 80 Prozent, Kermes ging als strahlende Siegerin aus dem Wagnis hervor.
Für ihre Tour mit der CD „Inferno e Paradiso“, was die Künstlerin mit „Tugenden und Todsünden“ übersetzt, war sie nun wieder bereit, ins Risiko zu gehen. Die Auftritte in Berlin und München, im Schloss Nymphenburg, hat sie mit einer eigenen GmbH komplett selbst organisiert.
Und auch auf Stationen, wo sie nicht selbst Veranstalterin gewesen wäre – zum Beispiel in der bereits ausverkauften Elbphilharmonie Hamburg – ist sie für die Reisekosten ihrer Musiker in Vorkasse gegangen. Da laufen schnell stattliche Summen auf, und längst nicht alles ist stornierbar.
In Berlin etwa hatte Kermes für die Amici Veneziani 13 Zimmer für vier Nächte gebucht, macht 4500 Euro. Sie hat die Philharmonie gemietet, ein Lichtpaket bestellt und einen Lichttechniker engagiert, ein Cembalo und einen Kontrabass von außerhalb besorgt, Kostüme schneidern lassen, da ist ein hoher vierstelliger Betrag angelaufen. Dazu die Werbung: Plakate auf Litfaßsäulen, 2800 Euro pro Woche. Und das alles ist ja trotzdem nur ein Ausschnitt des enormen organisatorischen und finanziellen Gesamtpakets.
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„Ich werde viel Geld verlieren“, sagt Kermes, gibt aber sofort zu bedenken, dass es eine Menge Künstler gebe, „die von der Hand in den Mund leben“ und im Gegensatz zu ihr über null Rücklagen verfügen. „Es muss jetzt was passieren“, fordert sie.
Die Künstlersozialkasse solle beispielsweise sofort die Beiträge einfrieren. Und klar, der Staat müsse den Künstlern, überhaupt den Selbstständigen, jetzt unter die Arme greifen. Aber ob Hilfe schnell genug kommt, und ob sie ausreicht – diese Sorge treibt auch Kermes um.
„Die Kulturlandschaft wird nach der Coronakrise eine andere sein“, befürchtet sie. Bis die Leute ihr Geld wieder für Konzerte ausgeben, könne viel Zeit vergehen. Sie zitiert Brecht, „erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Gegenwärtig müsste dieser Satz lauten: Erst kommt das Klopapier, dann die Kultur.
Kermes steht zum Opernbetrieb erfrischend quer
Was auch bedeutet: Auf absehbare Zeit wird bei vielen Künstlern der Mut schwinden. Kermes, die zum Opernbetrieb auch deswegen erfrischend quer steht, weil sie wenig Lust auf Kompromisse verspürt, hätte mit ihrem „Selbst-ist-die-Sängerin“-Projekt inspirierend wirken können – gerade auch für jüngere Kollegen.
Für solche, die nicht einfach nur aufs nächste Engagement warten wollen. Nach Corona wird sich jede und jeder zweimal überlegen, ob das Risiko eines eigenen Projekts sich lohnt. Insofern ist Kermes’ Geschichte eben nicht nur die eines persönlichen Verlusts.
Am Morgen hat sie noch ein Video aufgenommen, zusammen mit dem Komponisten Jarkko Riihimäki, der für ihre „Inferno e Paradiso“-CD ein paar wirklich großartige Barock-Arrangements von namhaften Popsongs und Schlagern geschaffen hat.
Künstlerin sorgt sich um ihre Zukunft
Udo Jürgens’ „Aber bitte mit Sahne“ darunter, für die Völlerei, oder „Pokerface“ von Lady Gaga, für die Wollust. Todsünden, Tugenden – ziemlich aktuelle Themen in Zeiten, in denen sogar der Bundestrainer darüber fabuliert, dass die Erde den Menschen loswerden wolle. Findet auch Kermes. „Vor 300 Jahren hätten sie mich jetzt als Hexe verbrannt“, wegen gespenstischer Weitsicht, sagt sie, nur halb im Scherz.
Das Lachen ist der Künstlerin vorerst vergangen. Sie sorgt sich um die Zukunft. Nicht wegen der vielen Absagen und Verschiebungen von Engagements, mit denen sie sich gerade herumschlägt. Sondern weil sie Europa zerfallen sieht.
Spätestens, seit sie – nach einem buchstäblich in letzter Minute abgesagten Konzert in Warschau – mit einem ihrer Amici-Veneziani-Musiker aus Venedig im Zug nach Berlin saß. Und an der Grenze in Frankfurt (Oder) Bundespolizisten zustiegen, die sie deutlich sagen hören konnte: „Wir suchen nach Italienern“.
Im Moment, sagt Simone Kermes, die ein großer Filmfan ist, fühle sie sich wie im Endzeitkrimi „28 Days Later“ von Danny Boyle. Zwar sei in Berlin noch nicht die Zombie-Apokalypse ausgebrochen. „Aber alle sind mit Angst infiziert“.