Eine Szenerie wie aus dem Alptraumlexikon: Ein junger Mann erwacht aus dem Koma und ist allein auf der Welt. Im OP-Hemd irrt er durch die Krankenhausflure. Die Möbel sind umgestoßen. Telefonhörer baumeln an den Münzfernsprechern. Draußen auf den Straßen Londons: nichts, niemand, keine Menschenseele. Picadilly Circus, Westminster Bridge und Oxford Street liegen verwüstet und verlassen in der Sommermorgensonne. Große leere Stadt. Feinste Metropolenpoesie. Diese ersten Bilder aus Danny Boyles „28 Days Later“ werden im cineastischen Gedächtnis bleiben, auch wenn man sich an den Rest (die Zombies, das Blut, den Militärkommandeur und seine notgeilen Untergebenen) schon längst nicht mehr erinnern kann.
Vergessen, wer Danny Boyle ist? Kann passieren, denn die frühen Erfolge des Briten, das Independent-Debüt „Kleine Morde unter Freunden“ und der Junkie-Kultfilm „Trainspotting“ liegen eine Weile zurück. Der Weg führte nach Hollywood, denn da durfte er Filme mit Cameron Diaz („Lebe lieber ungewöhnlich“) und Leonardo DiCaprio („The Beach“) drehen: Filme, denen der Spagat zwischen Kult und Kommerz nur mit Mühe gelang. Aber nun ist Boyle wieder da – mit einem Low-Budget-Thriller, der sich mit einer sehr britischen Angstfantasie beschäftigt.
Vom Linksverkehr bis zum Euro-Boykott: Die Insellage war stets stilprägend für das nationale Selbstwertgefühl Großbritanniens. Mit dem BSE-Skandal drohte die geopolitische Sonderstellung jedoch Mitte der Neunziger in die Isolation zu kippen. „28 Days Later“ denkt den Rinderwahnsinn weiter und malt die diffuse Paranoia sowie die uneingestandenen Verlassensängste jener Tage zu einem apokalyptischen Gemälde aus. Militante Tierschützer befreien aus einem Versuchslabor Schimpansen, die mit einem „Wutvirus“ infiziert sind. 28 Tage später, als der Fahrradkurier Jim (Cillian Murphy) aus dem Koma erwacht, ist fast die gesamte britische Bevölkerung dahingerafft. Das Virus verwandelt harmlose Mitmenschen binnen weniger Sekunden in wütende Zombies.
Während auf der britischen Insel das Chaos regiert, ziehen weit oben am Himmel Flugzeuge vorbei, die beweisen, dass jenseits von Kanal und Atlantik die Zivilisation überlebt haben muss. Im verwüsteten London trifft Jim auf ein paar Restmenschen: die schwarz gekleidete Kampfamazone Selina (Naomie Harris), den Familienvater Frank (Brendan Gleeson) und dessen Tochter Hannah (Megan Burns). Gemeinsam folgen sie einer Radiobotschaft nach Manchester. Dort hat sich eine Gruppe Soldaten verschanzt, die Rettung verspricht, doch ihre Vorstellungen von der Erhaltung des Menschengeschlechts sind etwas eigen. Was als ZombieGenrefilm beginnt, geht in ein Psychodrama über, das entfernt an Oliver Hirschbiegels „Das Experiment“ erinnert.
Den Wechsel vom großstädtischen Endzeitthriller zum blutrünstigen Kammerspiel übersteht „28 Days Later“ nicht unbeschadet. Als Genre-Update wäre der Film womöglich gelungen. Aber die Parabel, wonach nicht der Zombie, sondern der Mensch des Menschen Wolf ist, kommt dann doch etwas banal daher. „28 Days Later“ wurde vom Dogma-geprüften Kameramann Anthony Dod Mantle („Das Fest“) auf DV gedreht. Seine Bilder beweisen, dass die Technik zu mehr als zu Handkamera-Exzessen taugt. Dem Sog der flirrenden Großstadttotalen aus dem leergeräumten London können sich auch 35mm-Puristen nicht entziehen. Für die gibt es dann noch ein Happy End, mit sterbenden Zombies, glücklichen Überlebenden und einem Hoffnungschimmer am Himmel – angeklebt und auf Celluloid.
In 15 Berliner Kinos; Originalversion im Babylon Kreuzberg, Cinemaxx Potsdamer Platz und Cinestar Sony Center .
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