Resilienz in der Coronavirus-Pandemie: Wie die Krise unser falsches Verständnis von Glück entlarvt
Im Ausnahmezustand dieser Tage wird offenbar, dass die Privatisierung des Glücks ein Betrug ist, an uns selbst und der Menschheit. Ein Essay.
Bis vor kurzem schien es doch alles noch so einfach zu sein. Diese Sache mit dem Glück. In den noch immer geöffneten Zeitschriftenläden lächelt es uns von den Titelseiten entgegen, für wenige Euro lässt es sich mit nach Hause nehmen. Hefte wie „Glücklich: Das Magazin für Entschleunigung, Genuss, Freude“ oder Ratgeber wie Rolf Dobellis „Die Kunst des guten Lebens. 52 überraschende Wege zum Glück“.
Viele Schulen in Deutschland unterrichten seit einigen Jahren sogar das Fach „Glück“. Jungen Menschen wird dabei vermittelt, wie sie Visionen entwickeln können, gute Entscheidungen treffen und sinnvoll planen. Das gelungene Leben erscheint als Resultat von Achtsamkeitskursen und Zeitmanagement.
Die Botschaft: Wir alle haben es in der Hand. Das Glück kommt zu uns, wenn wir es einladen. Es braucht dafür nur die richtigen Techniken. Wer das Handwerk erlernt, kann die Kunst ausüben.
Nun sind die Schulen geschlossen. Und wir hätten Zeit, all die Lebenskunstphilosophen zu studieren, Unterhosen mit Marie Kondo zu falten und spirituelle Techniken mit Eckhart Tolle zu vertiefen. Doch stattdessen dämmert vielen Menschen im stillen Kämmerlein, dass etwas an dieser Erzählung nicht stimmt.
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Es ist der bange Blick auf die steigenden Infiziertenzahlen, es sind die schrecklichen Bilder aus den Nachbarländern, die die Erkenntnis bringen: Das menschliche Glück lässt sich nicht abschirmen. Nicht durch Landesgrenzen und auch nicht durch Gartenzäune.
Jeder ist seines Glückes Schmied?
Das Streben nach Glück ist seit jeher ein Kernthema der Philosophie. Der griechische Philosoph Aristippos von Kyrene gilt bis heute als erster Glücksphilosoph und Begründer der Idee des Hedonismus. Seiner Lehre zufolge geht es darum, die Lust auf individueller Ebene zu maximieren, Schmerz hingegen, wo nur möglich, zu vermeiden.
Doch schon Aristoteles wandte sich gegen die offensichtliche Sozialvergessenheit seines Vordenkers. Vielmehr sei das Glück des Einzelnen im hohen Maße von der Gunst der äußeren Umstände abhängig, das gelungene Leben des Einzelnen unweigerlich an die menschliche Gemeinschaft gebunden. Hier scheint ein rätselhafter Doppelcharakter des Glücks auf. Es ist zugleich subjektiv abhängig vom individuellen Vermögen der Empfindung, als auch objektiv von den gesellschaftlichen Daseinsbedingungen.
Am entschiedensten wandte sich Friedrich Nietzsche gegen die zahlreichen philosophischen Rezepturen für das Glück: „Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von außen nur verhindert, gehemmt werden.“
Erst, so Nietzsche weiter, wenn die Menschheit ein „allgemein anerkanntes Ziel“ hätte, wäre es möglich, eine Anleitung an die Hand zu geben, doch „einstweilen gibt es kein solches Ziel.“
Freilich scheint es das auch 120 Jahre nach Nietzsches Tod (er starb ausgerechnet an einer Lungenentzündung) nicht zu geben. Die über Jahrzehnte mantraartig in unseren Gesellschaften wiederholte Losung „Mehr Privat – Weniger Staat“ spiegelt sich auch im Credo „Jeder ist seines Glückes Schmied“ wider.
Das vorherrschende Leistungsprinzip sieht nur geringe Eingriffe in die Marktmechanismen vor und geringe Absicherung des Einzelnen gegenüber unverschuldeten Notlagen. In den USA sind aktuellen die Folgen einer solch radikal marktkonformen Ausrichtung der Gesellschaft im Krisenfall auf dramatische Art zu beobachten.
Rückzug in die Innerlichkeit
Nicht zuletzt der populäre Begriff der Resilienz verweist darauf, dass die Verantwortung für ein gelungenes Leben immer weiter in das Individuum verlagert wird. Demnach geht es auf der Glückssuche wie einst in der griechischen Antike wieder um einen Rückzug in die Innerlichkeit.
Selbst das Bundesgesundheitsministerium rät auf seiner Homepage: „Je belastbarer Sie sind, desto besser. Das wird man vor allem, wenn man sich in kritischen Situationen nicht so schnell aufregen oder ängstigen lässt. Und das heißt: gelassener werden. Wer Wege kennt, sich selbst zu helfen, ist zuversichtlicher und empfindet weniger Stress.“
Wohlgemerkt, diese Ausführungen waren dort schon lange vor der Coronakrise zu finden. Was in diesem Verständnis mitschwingt: Das Dasein wird von vornherein als gesetzter Ausnahmezustand aufgefasst, den es als Einzelner zu ertragen gilt. Die objektiven Voraussetzungen für ein gelingendes Leben, die politisch steuerbar wären, geraten dabei aus dem Blickfeld.
Glück wird tendenziell zu einer Kategorie der persönlichen Autosuggestion. Es gilt dabei nicht das (Zusammen-)Leben besser zu gestalten, sondern den Einzelnen abzuhärten.
[Die neuesten Entwicklungen und Hintergründe zum Coronavirus können Sie hier in unserem Newsblog mitverfolgen.]
Doch mit dem Ausbruch der Coronakrise erfolgte der gnadenlose Einfall der Objektivität. Die Vorstellung, dass jeder Mensch die Möglichkeit habe, für sein Glück zu sorgen, wird vom Virus als Ideologie entlarvt. Nun hilft keine Resilienz und kein unternehmerisches Geschick.
Covid-19 sprengt den Rahmen der individuellen Verantwortung für das Wohlergehen, es überwindet die Mauern und Gräben der Wohlstandsgesellschaften, und es vertieft sie zugleich. Gesundheit und medizinische Versorgung sind auch eine Frage des Geldes. Und erst in der Quarantäne spüren viele nun, wie wenig sie doch aus sich selbst schöpfen können, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.
Die kleinste gemeinsame Glücksformel dieser Tage
Jenseits von Klopapier-Hamsterkäufen und Corona-Partys scheint sich eine Ahnung davon zu manifestieren, dass das menschliche Glück mehr ist als die bloße Befriedigung individueller Bedürfnisse. Nur gemeinsam lässt sich die Menschheitsaufgabe realisieren. Nur gemeinsam das Unglück eindämmen, das so vielen Menschen das Leben kostet.
Und so erscheint in der Krise zumindest vorübergehend das „allgemein anerkannte Ziel“, von dem Nietzsche sprach. Der kollektive, bange Blick auf die Infektionskurven ist vielleicht die Vorahnung eines anzustrebenden solidarischen Bewusstseins. Dafür, dass wir das Wohlergehen der anderen nie aus dem Blick verlieren dürfen.
Ob das ebenso gegenüber Geflüchteten und unterbezahlten Pflegerinnen gilt, auch wenn der Ausnahmezustand eines Tages beendet ist, wird die Gesellschaft beweisen müssen. Bis dahin bleibt uns nur die Einsicht, dass wir alle verletzlich sind und das bescheidene Glück, zu wissen, dass wir füreinander da sein können. Sowie die kleinste gemeinsame Glücksformel dieser Tage: zusammen gesund bleiben zu wollen.
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