Bilanz der Berliner Kulturpolitik: Wachstum, Werbung, Widerstand
Gut für Berlin, aber für welches? Was sich unter Michael Müller und Tim Renner kulturpolitisch verändert hat. Eine Bilanz vor der Abgeordnetenhauswahl.
Vor langer Zeit, als Berlin noch einen Kultursenator hatte und ein eigenes Kulturressort, geschah etwas Bizarres, an das man sich bis heute erinnert. Über Nacht wurde in einer hektischen Senatssitzung das Schiller-Theater geschlossen, ohne Plan und Perspektive. Ein Desaster für die Stadt, auch finanziell. Jener Kultursenator – wir schreiben das Jahr 1993 – hieß Ulrich Roloff-Momin. Er hat viel Gutes getan für die Stadt, die damals im Durcheinander der Vereinigung steckte, aber das half alles nichts. Fortan war er ungerechterweise der „Schiller-Killer“, der Mann, der in der Öffentlichkeit allein die Liquidation der Staatlichen Schauspielbühnen zu verantworten hatte.
Tim Renner ist seit April 2014 Kulturstaatssekretär. Nicht Senator. Dieses Amt hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller von Klaus Wowereit mit übernommen. Im Dezember 2014 hatten plötzlich der kulturpolitische Novize Michael Müller und der frisch eingearbeitete Quereinsteiger Renner die Geschicke der Kultur in der Hand.
Mit Renners politischem Wirken wird sich historisch vor allem eines verbinden: Er hat Chris Dercon als Nachfolger von Frank Castorf an die Volksbühne geholt. Für manchen Zeitgenossen ist das ein so großes Verbrechen wie der Schiller-Thriller von Roloff-Momin. Der war es übrigens, der einst Frank Castorf als Intendanten der Volksbühne installiert hat. Ein Vierteljahrhundert ist indessen vergangen. Und an Renner klebt jetzt das Label des Castorf-Terminators.
Geld ist kein Problem
Dabei haben Müller und Renner reichlich Geld beschafft und in der relativen Kürze der Zeit, die ihnen zur Verfügung stand – gerade einmal eine halbe Legislaturperiode – manches verbessert, wenn auch nur graduell. Das betrifft die Freie Szene, die Künstlerateliers, zum Teil auch das Kinder- und Jugendtheater. Für die Staatsoper wurde mit Matthias Schulz ein junger Intendant in spe gefunden und ein ungewöhnliches Nachfolgemodell. Altmeister Jürgen Flimm arbeitet den Neuen selbst ein.
Berlins Kulturetat konnte insgesamt auf rund 400 Millionen Euro im Jahr ansteigen. Eine gewaltige Summe: Sie drückt die gewachsene ökonomische Bedeutung der Kultur für die Stadt aus. Der Boom kam spät, jetzt ist er kaum zu beherrschen. Kultur, Politik und Tourismuswirtschaft lassen sich manchmal nicht mehr unterscheiden.
Es ist kein Zufall, dass in diesen Zeiten der frühere Pop- und Musikmanager Tim Renner das Amt des Kulturstaatssekretärs versieht. Anders als bei seinem Antritt zu vermuten war, hat er den engen Spielraum genutzt und schnell einen anderen Ton in die Kulturpolitik gebracht. Renner sieht die Entwicklung der Stadt radikaler und kommerzieller. Was ihm das Image eines Eventdealers eingebracht hat, weil er anders gepolt ist als der eingesessene Bildungsbürger in Ost und West. Die traditionellen Begriffe und Hierarchien geraten aber allgemein unter Druck.
Größter Kulturstreit der letzten Jahre
Der Vorgänger André Schmitz vertrat doch eher ein klassizistisches, konservatorisches Berlin, das sich in der rückwärts gewandten, sündhaft teuren Wiederherstellung der Staatsoper und der hybriden Schlossfassade des Humboldt- Forums wiederfindet. Und in der guten alten revolutionären Volksbühne: Wowereit und Schmitz drückten sich um eine Entscheidung über die Castorf-Nachfolge herum.
Der Fall Volksbühne hat sich weit über Berlin hinaus zum größten Kulturstreit der letzten Jahre entwickelt. Einen Intendanten nach 25 Jahren nicht mehr zu verlängern, das ist eigentlich kein Skandal, sondern überfällig. Bloß haben Renner und Müller dramatisch unterschätzt, welche Bedeutung die Castorf-Volksbühne für Berlin hat, eben weil Castorf so lange schon das Haus am Rosa-Luxemburg- Platz regiert. Die Volksbühne funktionierte besonders in den neunziger Jahren wie ein Kraftwerk, das Kunst, Parolen und Debatten produzierte, vor allem aber Identität. Das ist für viele Menschen – nicht nur aus dem Osten – immer noch so. Und immer mehr: Es geht um eine Symbolik für die gesamte Stadt und ihre Veränderung. Es geht um Glaubensfragen. Verkürzt gesagt: Übernimmt der Markt die Stadt, also Dercon, oder widerstehen die alteingesessenen anarchistischen Machthaber – Castorf – dem Entwicklungsdruck?
Die Farce um die Volksbühne erinnert an das Tempelhofer Feld. Auch da wurden die Politiker überrascht und düpiert, lief das Volksbegehren auf das trotzige Festhalten am Bestehenden hinaus, zeigte sich eine unangenehme Aversion gegen Neues wie die geplante Zentrale Landesbibliothek, war die Kommunikation vonseiten des Senats miserabel. In einem Tempelhofer Hangar will Chris Dercon mit der Volksbühne eine temporäre Spielstätte errichten.
Niemand weiß, wie die Geschichte ausgeht. Ob Dercon, durchaus in der Tradition der Volksbühne, Spektakuläres gelingt, mit der erforderlichen Nachhaltigkeit. Renner und Müller haben ein höchst riskantes Experiment in Gang gesetzt, allerdings nach Art des Hauses und vom Volksbühnengeist inspiriert. Als Castorf & Co. 1991 antraten, hieß das kulturpolitische Motto einigermaßen zynisch: „In drei Jahren berühmt oder tot.“
Das waren noch andere Zeiten. Heute ist die Lässigkeit passé. Die geile, coole Volksbühne hat Berlin auch mit zum Schauplatz der Gentrifizierung gemacht, ebenso wie das Kunstquartier um die Auguststraße. Im Kulturbereich wird heute hektisch und nicht frei von Verbissenheit gearbeitet, anders ist das immense Pensum nicht zu schaffen, das sich der Betrieb auferlegt hat, um das 365/24-Angebot zu schaffen. Ständiges Wachstum. Bis in die freie Szene hinein stehen Produktion und Konsum des ständig „Neuen“ im Vordergrund. Erfolgsdruck überall.
Die Illusion der Widerständigkeit
Allein die Volksbühne scheint sich noch ein anderes Zeitgefühl erhalten zu haben, die alte Bühnenluft, das Ethos oder auch nur die Illusion der Widerständigkeit. Jedenfalls kann man das so empfinden. Und jetzt wird auch diese letzte große Bastion des selbstbestimmten Berlin geschleift. So lesen sich die – durchaus selbstgefälligen – Proteste gegen die Berufung von Chris Dercon.
Es ist nicht ohne Ironie, dass Michael Müller und Tim Renner möglicherweise Dercons Start im Herbst 2017 nicht mehr erleben, jedenfalls nicht als Senatspolitiker. Der Ausgang der Wahl zum Abgeordnetenhaus in zwei Wochen wirkt offen wie selten. Ob Müller Regierender Bürgermeister bleibt, ist eine Sache. Eine andere ist, mit wem er möglicherweise koaliert. Und ob in einer neuen Konstellation dann wieder ein Kulturstaatssekretär oder gar ein Kultursenator Renner herauskommt oder ein anderer in die Kulturveraltung in der Brunnenstraße einzieht. Kulturpolitik besitzt neuerdings eine hohe Attraktivität.
Kulturpolitik soll sich nicht mehr um Intendantenposten kümmern, sondern auch um Bildung, Integration und Stadtentwicklung. Es entsteht im Grunde ein neues Querschnittsressort. Müller und Renner sind die Vorboten: animiert und überfordert zugleich.
Michael Müller wirkt in diesen Tagen verkniffen und angespannt. Es läuft nicht gut, die Umfragen bringen miese Werte für die SPD. Nicht so in der Kultur: Da fühlt er sich wohl, darf er glänzen, wie bei der Eröffnung des Festivals Pop-Kultur oder beim Empfang des sozialdemokratischen Kulturforums. Man war ins Studio des Künstlers Olafur Eliasson im Pfefferberg geladen, wo auch Ai Weiwei seine Atelierräume hat.
Das ist das neue Berlin, das Müller genießt und das in seinen Augen von einem Netzwerker und Impresario wie Chris Dercon repräsentiert wird, den man jetzt oft bei solchen Terminen von Kultur und Politik trifft. Die Funktionen von Intendant und Kurator fallen hier zusammen – der staatliche Theaterleiter und der frei schwebende globale, am Kapital orientierte, mit Sponsoren vertraute Kunstmensch. Müller wird nicht müde, die Internationalität der Stadt zu preisen, ihre Weltoffenheit zu betonen, die „Stadt der Freiheit“. Als müsste man für Berlin noch Werbung machen.
Den Belgier Dercon haben sie von der Tate Modern aus London geholt und mit dieser unerwarteten Personalentscheidung wie die Zauberlehrlinge einen Sturm entfacht. Anders bei Paul Spies: Alle schwärmen von dem neuen Direktor der Stiftung Stadtmuseum, der aus Amsterdam gekommen ist. Paul Spies reißt seine Gesprächspartner mit. Er hat in Windeseile ein Konzept für den Teil des Humboldt-Forums vorgelegt, der vom Land Berlin bespielt wird.
Ein Schloss zum fantasieren
Michael Müller begreift die Bedeutung des Riesenbauwerks, das in der Nachbarschaft des Roten Rathauses entsteht. Wowereit zeigte sich da eher ignorant. Müller sieht hier eine weitere Chance, Berlin als die besondere Metropole zu präsentieren, vom 19. Jahrhundert der Erfindergeister und Künstler bis in unsere bunte Gegenwart. Das Humboldt-Forum lädt ja geradezu zum Fantasieren und Entwerfen ein, solange ein umfassendes Konzept nicht vorliegt.
Eine kleine Spekulation: Wenn das Humboldt-Forum erst einmal komplett eröffnet ist, etwa im Jahr 2020, könnte es dort zugehen wie schon an vielen Stellen in Berlin. Das Humboldt-Forum wird von Touristen gestürmt. Es liegt hyperzentral, und irgendwo müssen die Besucher ja hin, deren Zahl immer noch weiter steigt. Vielleicht können eines Tages in Berlin auch Monster-Kreuzfahrtschiffe anlegen wie in Venedig.
Am Humboldt-Forum überschneiden sich die kulturpolitischen Aufgaben und Ausgaben von Bund und Berlin. Die laufenden Betriebskosten werden auf 50 Millionen Euro veranschlagt. Sie sind ein Teil des neuen Hauptstadtvertrags, in dem Kultur eine wichtige Rolle spielt. Der Bund hat zuletzt immer mehr in die hauptstädtische Kultur investiert. Jetzt war davon die Rede, dass der Bund eventuell bei den Berliner Philharmonikern einsteigt. Die beiden Seiten haben lange verhandelt. Müller könnte noch vor der Wahl am 18. September den frischen Kontrakt als Erfolg vorweisen, es hakt wohl nur noch bei Details.
Es ist ein seltsames Duo: Der agile, freche, von traditioneller Kulturgeschichte und -erfahrung unbelastete Tim Renner ironisiert gern das Gewachsene, misstraut dem Gewohnheitsrecht und scheint auf der Suche nach der nächsten Wave zu sein. Renner will den Anschluss an eine Zukunft nicht verpassen, die er selbst noch nicht kennt, während sich sein Chef Michael Müller, sonst ein Kontrollfreak, in der Kultur entspannt und dabei manchmal wirkt wie ein Reisender, der neugierig Neuland betritt.
Wandel heißt Unsicherheit
Allerdings ist das Leben in der Großstadt keine Biennale, kein Dauerfestival. Gar nicht so unrealistisch erscheint dieses Szenario: Das durch Kultur und Kreativwirtschaft mit generierte schnelle Wachstum lässt eine Stadt entstehen, auf die man dann doch nicht mehr so stolz ist, weil sie den Menschen zur Last fällt, die in ihr leben, in einem Stadtraum, der ihnen zu teuer und zu schäbig zugleich wird und ihre Grundbedürfnisse nicht mehr erfüllt.
Man spürt es an vielen Stellen, zumal in den kulturellen Einrichtungen der Stadt. Ein Wandel geht vor sich, Unsicherheit herrscht. Verteilungskämpfe deuten sich schon an zwischen der neuen Volksbühne, dem Hebbel am Ufer, den Berliner Festspielen, die mit Nachdruck nach neuen künstlerischen Präsentationsformen suchen, nach „immersiver Kunst“ oder nach „radikaler Diversität“, wie es am Maxim Gorki Theater heißt. Es ist die Preisfrage, wer sich schneller verändert – die Stadt oder ihre Kultur.
Interessant ist die Wahl der Theater des Jahres in der Zeitschrift „Theater heute“: Gekürt wurden soeben die Volksbühne und das Gorki Theater. Das ältere Berlin und das neuere Berlin. Es gehört zu einer intelligenten Kulturpolitik, diese Kraftfelder zusammenzuhalten. Und es ist auch nicht nötig, ständig darauf hinzuweisen, wie toll wir hier sind.
Rüdiger Schaper