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Nein, hier spielt nicht Rihanna, hier werden Karten für die Elbphilharmonie verkauft.
© Christian Charisius/dpa

Klassische Musik: Von wegen, das Klassik-Publikum stirbt aus

Ok, Klassik erschließt sich nicht mit Bier auf dem Sofa. Aber erledigt ist sie deshalb nicht. Variationen über ein paar hartnäckige Vorurteile in Sachen Bach, Beethoven, Brahms und Co.

Los ging es mit dem Musikforum Ruhr, im vergangenen Oktober: Eine schon lange leer stehende, entweihte Kirche im Zentrum von Bochum wurde dort zum Foyer umgebaut, daneben entstand ein 920-Plätze-Konzertsaal. Für das städtische Sinfonieorchester wurde ein Traum wahr, nach Jahrzehnten des Vagabundierens durch akustisch unbefriedigende Spielstätten. Mehr als ein Drittel der Bausumme hatten Bürger und örtliche Unternehmen aufgebracht.

Im Januar folgte dann die Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie, als weltweit wahrgenommenes Medienereignis und glücklicher Schlusspunkt eines Endlosskandals. Ganz und gar unhanseatisch wirkt der von privater Seite angestoßene Prestigebau, zu protzig, zu avantgardistisch, größenwahnsinnig gedacht, aber schließlich doch spektakulär gemacht.

Der Berliner Pierre-Boulez-Saal wiederum, in Betrieb seit Anfang März, entstand als Nebenprodukt eines humanistischen Projekts: Ein architektonisches Kleinod hat Frank Gehry pro bono entworfen, in dem die Zuhörer unglaublich nahe dran sind am Geschehen, ein anatomisches Theater für Klangsezierer. Und dabei doch eigentlich nur ein Annex der Barenboim-Said-Akademie, jener vom Staatsopern-Chefdirigenten ins Leben gerufenen Hochschule, in der jüdische und arabische Nachwuchsprofis das Zuhören lernen sollen, im musikalischen Zusammenspiel wie im echten Leben. 14 Millionen Euro hat der Maestro bei Mäzenen eingesammelt, den Rest bezahlte der Bund.

In Dresden schließlich öffnete am vergangenen Wochenende der Kulturpalast wieder seine Pforten, äußerlich denkmalgerecht in den Originalzustand des Baujahres 1969 versetzt, im Inneren von der alten Multifunktionshalle befreit und nunmehr ausgestattet mit einem ganz auf die Bedürfnisse der Dresdner Philharmonie ausgerichteten 1800-Plätze-Saal.

Mehr als eine Milliarde Euro wurde in vier neue Konzertorte investiert

Vier neue Konzertorte für klassische Musik, eingeweiht binnen sechs Monaten: Das Zuhören hat Konjunktur in Deutschland. Mehr als eine Milliarde Euro wurden investiert, Geld vom Staat, aber auch stattliche Summen von privater Seite, von künftigen Besuchern wie von Sponsoren, die der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen. Und es ging hier nicht allein darum, Landmarken zu schaffen, wie oft im Museumsbau, Leuchttürme, von denen sich Stadtväter und Marketingleute, bitte, bitte einen neuen Bilbao-Effekt versprechen, wo das 1997 fertiggestellte Guggenheim-Museum das Stadtbild neu geprägt hat. Im Mittelpunkt des Interesses stand sogar etwas Unsichtbares: der Schall – und die Frage, wie er den bestmöglichen Weg von seiner Erzeugung auf der Bühne hin zu den Ohren des Publikums nehmen kann.

Akustik ist nicht allein exakte Wissenschaft, sondern immer auch Alchemie. Wie und wo sich die Schallwellen brechen, in welche Richtungen sie gelenkt, abgestrahlt werden, lässt sich errechnen, ebenso das theoretisch ideale Raumvolumen im Verhältnis zur Anzahl der Sitze. Aber ob ein Klang letztlich als golden empfunden wird, hängt immer auch vom Ambiente ab. Davon, ob die Musiker sich wohlfühlen, sich beim Spielen gut hören können. Und davon, wie sich die Besucher empfangen fühlen, welche Materialien, welche Farbtöne sie umgeben. Das Auge hört mit, bestätigen selbst die größten Gurus der Fachrichtung. Hier können tatsächlich alle vier Projekte punkten.

Die traditionellen Rituale übrigens, die so oft an der Klassik kritisiert werden, dienen ebenfalls dem einem Hauptziel: die Fokussierung auf das Hörerlebnis zu ermöglichen. Zum Beispiel, indem alle Mitwirkenden schwarz gekleidet sind – und dadurch optisch zum Kollektiv verschmelzen, eben zum Klangkörper. Oder, indem das Licht im Saal gedimmt wird, so dass diejenigen, um die sich alles dreht, in den Mittelpunkt rücken. Festliche Kleidung wird – gerade in Berlin – zwar schon lange nicht mehr erwartet in Theatern wie Konzertsälen. Aber auch das Umziehen zu Hause, das Sichzurechtmachen kann dabei helfen, den Alltag abzulegen, sich innerlich einzuschwingen auf das besondere Erlebnis, das einen erwartet, das Außergewöhnliche.

Der Hype um den besten Klang ist auch ein Politikum

In genau die entgegengesetzte Richtung zielt die Crossover-Bewegung: Sie will die Leute dort abholen, wo sie stehen. Was gut gemeint ist, aber nur in den seltensten Fällen direkt zum Kammermusik-Abo führt. Stattdessen ist ein ziemlich beachtlicher Parallel-Markt der Klassik-Unterhaltung entstanden. André Rieu und David Garrett, Neo-Klassik à la Max Richter, Konzerte mit Blockbuster-Filmmusik oder Soundtracks von Computerspielen finden jede Menge begeisterte Fans, die es zu schätzen wissen, wenn sich der Komplexitätsgrad der Aufführung eher an Andrea als an Alban Berg orientiert. Das ist ganz ohne Wertung gemeint: Schließlich soll jeder nach seiner Façon selig werden.

Das Bedürfnis, neue, akustisch außergewöhnliche Säle zu schaffen, entsteht natürlich zuerst bei den ausübenden Künstlern. Wenn sich aber auch die politisch Verantwortlichen wie die Nutzer dieses Ziel zu eigen machen, wenn sich gar, wie gerade, ein Hype um den grandiosesten Klang daraus entwickelt, dann sagt das viel aus über den Stellenwert, den die klassische Musik im Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland einnimmt. „Das Erlebnis eines Konzerts, die Interkommunikation von Künstlern und Publikum ist durch nichts zu ersetzen“, hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bei seiner Festrede zur Eröffnung des Dresdner Kulturpalasts betont. Und mit Blick auf die rasante Entwicklung technischer Geräte festgestellt: „Es kann gar nicht genug Versammlungsorte geben – Vereinzelungsorte gibt es nämlich schon genug.“Vom hartnäckigen Vorurteil des Elitären und dem Silbersee-Effekt

Nein, hier spielt nicht Rihanna, hier werden Karten für die Elbphilharmonie verkauft.
Nein, hier spielt nicht Rihanna, hier werden Karten für die Elbphilharmonie verkauft.
© Christian Charisius/dpa

Die gerade frisch veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes untermauern diese These: Jährlich verkaufen die 130 staatlich unterstützten Orchester in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 5,2 Millionen Tickets. Rechnet man die 5,4 Millionen Gäste hinzu, die zu den 200 Klassik-Festivals zwischen Kiel und Kempten strömen, und die 7,6 Millionen, die pro Saison Opern-, Operetten- und Musical-Vorstellungen hierzulande besuchen, kommt man auf eine Gesamtsumme von 18,2 Millionen Nutzern. Die Fußball-Bundesliga lockte dagegen in der vergangenen Spielzeit lediglich 13,2 Millionen Zuschauer in die Stadien.

Wer behauptet, das Klassik-Publikum sterbe aus, der lügt. Und wer lamentiert, bei Sinfoniekonzerten würden immer nur dieselben Stücke gespielt, hat das Prinzip dieses Genres nicht verstanden. Sicher, im Gegensatz zu den Top-Spielen der Champions League oder einer WM sind Übertragungen von Konzerten im Fernsehen keine Straßenfeger. Weil Klassik nun einmal nichts ist, was man am bequemsten mit einer Flasche Bier in der Hand auf der Couch konsumiert. Klassik wird vor allem live zum Erlebnis, als Manufaktum-Kultur. Zu den wirklich guten Dingen, die es noch gibt, gehören definitiv Abende, bei denen sich 50, 70 oder manchmal sogar 100 hochqualifizierte Fachleute zusammentun, um etwas kunsthandwerklich Komplexes zu erzeugen, das im Moment seines Erklingens schon wieder verweht ist. Und das immer ein Unikat bleibt. Selbst wenn zum 4365. Mal Beethovens Fünfte auf den Notenpulten liegt. Weil es eben jedes Mal eine neue, andere Konstellation von Individuen ist, die diese Partitur zu klingendem Leben erweckt. Denn jeder Interpret hat nun einmal seinen ganz eigenen Zugang zu den ewigen Meisterwerken, bei jeder Aufführung schwingt der Kontext der aktuellen Lebensumstände mit, in denen sich die Ausführenden bewegen. Kunst verändert sich mit den Zeitläuften. Das wird sofort ohrenfällig, wenn man ein und dieselbe Mozart-Sinfonie vom legendären Wilhelm Furtwängler dirigiert hört, von Herbert von Karajan, seinem klangästhetischen Antipoden Nikolaus Harnoncourt oder vom wildesten unter den jungen Maestri, Teodor Currentzis.

Der Zugang zur Klassik ist einfach wie nie - und günstig

Zugegeben, oft unterscheiden sich die Darbietungen altbekannter Stücke auch nur um Nuancen, die sich lediglich dem geschulten Ohr erschließen. Denjenigen, die schon lange dabei sind und Vergleichsmöglichkeiten haben. Aber das Schöne an der Klassik ist ja gleichzeitig, dass so ein intellektuell-analytischer Zugang nicht der einzig seligmachende ist. Der Genuss kann ganz ohne Vorkenntnisse genauso groß sein. Indem man sich einfach öffnet, von der Musik durchströmen lässt. Ja, es ist sogar absolut okay, mit den Gedanken abzuschweifen, an etwas ganz anders zu denken. Jeder erlebt die besondere Situation eines Konzertes – das Heraustreten aus dem Alltag – eben auf seine Weise.
Diese Erkenntnis ist allerdings schwer zu vermitteln. Zu hartnäckig hält sich das Vorurteil, Klassik sei etwas Elitäres. Zu dem man sich das Zutrittsrecht nur durch trockene Konzertführerlektüre erarbeiten kann. Und das bestimmten Gesellschaftsschichten vorbehalten bleibt. Dabei war der Zugang zur Klassik noch nie so einfach wie heute. Deutschland hat das dichteste Netz von Sinfonieorchestern und Opernhäusern weltweit – und ein ebenso konkurrenzlos günstiges Preisniveau. Für ein Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters im neuen Hamburger Prachtbau werden zwischen 15 und 72 Euro pro Person fällig. Mehr nicht. Und in der sogenannten Provinz ist Musikgenuss noch viel günstiger. Selbst die Salzburger Festspiele, preislich der Spitzenreiter unter den Festivals, bieten die Hälfte ihrer Tickets für unter 100 Euro an, was man von den Hitparaden-Stars der Pop- und Rockszene nicht behaupten kann.
Bleibt noch die Sache mit dem Durchschnittsalter der Konzertbesucher, dem nach der dominierenden Haarfarbe sogenannten „Silbersee“-Effekt, aus dem die Kassandrarufer seit Jahrzehnten das bevorstehende Aussterben des Publikums ableiten: Liebe Grau-Seher, ihr vergesst, dass Klassik schon immer eine Kunstform für die reiferen Semester war. Überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Altersdurchschnitt von Kinobesuchern. Der Anteil derer, die sich von frühester Jugend an für Streichquartette und Klavierkonzerte begeistern, ist konstant gering.

Die Klassik ist ein Hobby für die Älteren, aber älter werden ja alle mal

Geduld ist darum die Haupttugend des Orchestermanagers, findet der finnische Klassik-Demograf Magnus Still. Es wachsen nämlich durchaus potenzielle neue Abonnenten für die Orchester nach – nur sind die eben im Durchschnitt nicht 25, sondern 52. Erst wenn die eigene Karriere in sicheren Bahnen läuft und die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, entdecken viele die Klassik für sich. Weil sie Zeit haben, weil sie es sich (wieder) leisten können – und weil sie sich unter lauter jungen Leuten in den Clubs unwohl fühlen.

Wichtig ist allerdings, dass die potenziellen Konzertsaalkunden die Klassik schon zu Grundschulzeiten als eine von vielen möglichen Freizeitaktivitäten kennengelernt haben. Damit die fatale Hemmschwelle erst gar nicht entsteht. Education heißt dieses Früh-Übt-Sich-Prinzip in angelsächsischen Ländern, und dank der Pionierarbeit, die der britische Dirigent Simon Rattle angestoßen hat, als er 2002 zu den Berliner Philharmonikern kam, hat sich hier enorm viel getan. Die Anstrengungen der Orchester im Bereich Jugendarbeit haben sich binnen zehn Jahren verdoppelt, auf bundesweit 5000 Veranstaltungen pro Spielzeit.

Die Probenbesuche für Schüler, die beispielsweise das Berliner Konzerthaus anbietet, sind ebenso klug konzipiert wie professionell organisiert. Zuerst kommen Ehrenamtliche in die Schulen, um die Kinder schon mal auf das vorzubereiten, was sie erwartet. Am Gendarmenmarkt angekommen, gibt es zunächst eine altersgerechte Einführung mit einer Musikpädagogin und einem Orchestermitglied, bevor alle in den großen Saal strömen, wo das Orchester probt. Und weil den Erstbesuchern dabei manches merkwürdig vorkommt, findet anschließend noch eine ausführliche Fragerunde mit einem weiteren Musiker statt. Wer das einmal miterlebt hat, dem ist wirklich nicht mehr bange um das Publikum der Zukunft.

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