"Angst II" von Anne Imhof im Hamburger Bahnhof: Von Tänzern und Tieren
Atem als Lebensspender: Anne Imhof und ihre "Oper" Angst II im Hamburger Bahnhof.
Es dauert eine Stunde, bis man „Angst“ bekommt – also jenes Werk, das der Hamburger Bahnhof in seiner aktuellen Ausstellung verspricht. Genau genommen ist es „Angst II“. Eine Fortsetzung der Oper, die Anne Imhof im Sommer dieses Jahres in Basel als ersten Akt aufgeführt hat. 2015 bekam die Künstlerin den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst verliehen, seitdem bereitet sie das dreiteilige Großprojekt mit Tänzern und Tieren vor. Beide waren schon vorher Teil ihrer eigenwillig unangepassten Performances. Esel und Schildkröten etwa sind den drei Raubvögeln vorangegangen, die nun an der kurzen Leine im Ausstellungsraum hocken. Das aktuelle Werk aber ist das größte der 1978 Geborenen. Und es wächst ihr während der Premiere von „Angst II“ mehr als einmal über den Kopf.
Das hat mit der Größe der historischen Halle im Hamburger Bahnhof zu tun. Die Tänzer und ihre ruhigen, fast somnambulen Bewegungen verlieren sich im unendlichen Raum. „Angst II“ ist kein lebendes Bühnenbild, um das man sich gruppiert. Sondern eine Art familiäre Aufstellung – mit einigen Akteuren arbeitet Imhof seit 2003 zusammen –, durch die sich die Ausstellungsbesucher bewegen. Deren Körper werden Teil der Inszenierung, gleichzeitig verdecken sie die Sicht auf die ohnehin sparsamen Interventionen. Nebel steigt auf, hüllt alles in einen rauchigen Schleier, und es gibt noch weniger zu sehen als in den langen Minuten vorher, in denen eine Drohne über die Köpfe surrte oder eine Artistin nach wenigen Schritten auf dem luftigen Seil den Rückzug antrat. Und gerade als man übers Gehen nachdenkt, findet sich die Truppe an einer Hallenwand zusammen, stimmt ein Lied an und entwickelt jene bildhafte Intensität, die Imhofs Aufführungen auszeichnet.
Die Angst geht unter die Haut, wohldosiert
Ab hier herrscht „Angst“. Nicht als alles überwölbendes Gefühl, eher in kleinen, unspezifischen Dosierungen, die allmählich unter die Haut gehen. Der Falke mit seiner Haube, die ihn blind und nervös macht. Die Akteure mit scharfen Klingen, die sie bei sich oder anderen Mitspielern über extrem empfindliche Stellen der Haut gleiten lassen. Später inhalieren sie und hauchen den Zigarettenrauch an den nächsten weiter, der ihn wieder durch den Mund in die Lunge zieht. Atem als Lebensspender. Die Künstlerin fürchtet sich nicht vor großen Bildern und Worten. „Rage“ hieß eine ihrer früheren Performances, „Deal“ eine andere. Sobald Imhof aber mit den Begriffen arbeitet, passiert ähnliches wie in der Aufführung von „Angst II“. Bewegungen verlangsamen sich, dichtes Grau füllt den Raum, Bedeutungen verblassen. Hier übernehmen Imhofs Akteure, die teils choreografiert sind, teils improvisieren. Mit Handlungen, Gesängen interpretieren sie das Wort. Selbst in Momenten, in denen sie sich lässig gelangweilt ausklinken und regungslos verharren.
Fertig wird am Ende nichts. Auch wenn „Angst II“ fünf Stunden dauert (und ab 15.9. in einer Vier-Stunden-Version gezeigt wird), hütet sich das Werk vor jeder Sinnstiftung. Die Tätigkeiten bleiben Fragmente, Bezüge angedeutet, Spuren werden in alle Richtungen gelegt. Es geht um Kontrolle, ihren Verlust, um Disziplinierung, die Angst vor dem Scheitern, um das Verharren in Ritualen und Gesten. Ohne narrativen Strang, mit losen Enden, die sich individuell zusammensetzen lassen. „Angst II“ bietet statt einer permanenten Ausstellung temporäre abendliche Inszenierungen, die man jederzeit wieder verlassen kann. Der Besucher schreibt sein eigenes Drehbuch, Imhof hat keine Macht über die Rezeption, will sie auch nicht. Dass ihr die Inszenierung in Phasen entgleitet, dieser Eindruck vom Beginn der Oper genannten Aufführung – die nicht Oper, sondern irgend etwas anderes ist –, weicht schließlich einer starken Vermutung: Es ist Absicht.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50/51, 15. – 18.9. & 22. – 25.9., 20 – 24 Uhr
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