Beuys im Hamburger Bahnhof: Böses Geld, gutes Kapital
Marx sei Dank: Der Hamburger Bahnhof begrüßt das neu erworbene Beuys-Werk mit einer essayistischen Ausstellung.
Das Beste zuletzt, am Ende der Ausstellung. Tafel um Tafel hängt an der hinteren Wand der Kleihues-Halle im Hamburger Bahnhof, gewöhnliche Schiefertafeln, wie man sie noch von früher aus der Schule kennt. Mit krakeliger Kreideschrift hat Joseph Beuys darauf geschrieben, seine Idee vom Kapital in Schaubildern formuliert, wie es als schöpferisches Potenzial verstanden werden könnte. „Der wichtigste ökonomische Faktor ist die menschliche Fähigkeit“, so Beuys, als hätte er das Zeitalter der Start-ups vorausgesehen. Was sich nach einem Vortrag üblicherweise als Folien für den Overheadprojektor verflüchtigt, überschrieben wird, akkumuliert sich bei ihm durch die fünfzig erhalten gebliebenen Tafeln zum eigenen Werk, dem zwei Filmprojektoren, ein Flügel, eine Zinkwanne, eine Emailleschüssel mit Seife beigefügt sind, eine Rieseninstallation, ein überwältigendes Arrangement.
Über drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung befindet sich dieses Environment in Berlin, wo es bleiben soll, denn hier hat Beuys seit vielen Jahren eine Heimstatt gefunden, die Sammlungen der Nationalgalerie sind eine zentrale Adresse für diesen wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit „Das Kapital Raum 1970–1977“ ist ein Hauptwerk, denn darin hat Beuys seine Ideen einer neuen Gesellschaft, eines besseren Zusammenlebens subsumiert. Programmatisch geschaffen 1980 für den deutschen Biennale-Pavillon in Venedig, fand sie ihre letzte Aufstellung, noch vom Künstler selbst eingerichtet, in den Schaffhausener Hallen für Neue Kunst.
Das war eigentlich auf Dauer gedacht. Geldprobleme, ausgerechnet, zwangen die private Stiftung zur Selbstauflösung und zum Verkauf ihres prominentesten Stücks. Der Berliner Sammler Erich Marx bekam den Zuschlag und reichte seine Erwerbung gleich an die Neue Nationalgalerie weiter. Durch seine Leihgaben gilt der Hamburger Bahnhof heute als Mekka für Beuysianer, nach Errichtung des Neubaus am Kulturforum wird es dort das Museum des 20. Jahrhunderts sein. Verständlich, dass der 95-jährige Sammler auf eine Präsentation so lange nicht warten wollte, gerade erst ist der Architektenwettbewerb angelaufen. Mit viel Glück steht der Bau in fünf Jahren. Der Wunsch wurde Marx erfüllt, den Stolz auf den Neuzugang teilen sich nun Sammler und Museum.
Und noch ein Drittes kommt hinzu. Für Beuys war die Schaffung des Werks Vermächtnis, für Marx ist es der Kauf, für den Kurator Eugen Blume nunmehr die Präsentation. Der Leiter des Hamburger Bahnhofs gibt mit der Ausstellung „Das Kapital. Schuld – Territorium – Utopie“ seinen Abschied in den Ruhestand. Der ausgewiesene Kenner, dem als junger Mann in den Siebzigern in der DDR ein Buch des Künstlers in die Hände fiel und der daraufhin allen Widerständen zum Trotz an der Humboldt-Uni über Beuys seine Abschlussarbeit in Kunstgeschichte schrieb, führt mit einer spektakulären Zusammenschau vor, was ihn sein ganzes Berufsleben vorantrieb: das Denken im offenen Raum, inspiriert durch einen Künstler, der immer in sozialen Dimensionen agierte, dem Politik, Ökologie, das Gespräch genauso wichtig war wie das eigene Schaffen.
Die zusammen mit Catherine Nichols entwickelte Ausstellung zeigt, wie ein Museum genau dieses Denken mit seinen Mitteln leisten kann. Der Hamburger Bahnhof spielt Humboldt-Forum, Raum freier Assoziation, Debattierclub, Denkerstube in einem. Die Ausstellung ist ein Abenteuer, sie bringt die verschiedenen Medien zusammen, dazu Spielzeug, Dampfmaschinen, Messgeräte, außerdem Bücher, Gedichte, Instrumente, Präparate, sie springt in den Techniken, Kulturräumen, Zeiten. So hat man Kapitalismuskritik noch nicht erlebt. Da werden die eisernen Fußfesseln eines afrikanischen Sklaven aus dem 19. Jahrhundert aus dem Ethnologischen Museum mit einem auf YouTube entdeckten Werbespot der Investmentbank Goldman Sachs von 2013 und Martin Luthers Schrift „Von Kauffhandlung und Wucher“ von 1524 aus der Staatsbibliothek kombiniert, dass einem schwindelig wird.
Genau das soll passieren frei nach Francis Picabia: Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann. Das Museum ist der beste Ort dafür, nachdem das Thema Kapitalismus in der Kunst erneut Fahrt aufgenommen hat. Der Brite Isaac Julien ließ auf der Biennale in Venedig im vergangenen Jahr zum Verdruss vieler Besucher Kapitel für Kapitel „Das Kapital“ von Karl Marx vorlesen. Die Berliner Ausstellung „Das Kapital“ aber geht weiter, mit Beuys’ Hilfe schiebt sie sich voran, fragt nach Schulden und Schuld, nach räumlicher Gier und Eroberungsdrang, zuletzt nach einer Vision. Sie macht das klug, nicht oberlehrerhaft, ja sie offenbart in der tausend Quadratmeter großen Ausstellungshalle unverblümt ihre eigene Ratlosigkeit mit Hilfe eines experimentellen Parcours aus lauter Vitrinen, von denen viele einfach leer geblieben sind, wie stehende Fragezeichen. Die Glaskästen stammen aus den Dahlemer Museen, wo gerade für den Umzug nach Mitte ins Humboldt-Forum eingepackt wird. Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof sei den dortigen Kuratoren mit auf den Weg gegeben, denn hier vereint sich modellhaft Schauen und Denken, ein Diskurs über Kulturen und Disziplinen hinweg, wie er von dem künftigen Großmuseum erwartet wird.
Bereits das Entree ist bravourös: eine Kopie von Adam und Eva aus dem Genter Altar, dazu Andy Warhols Siebdruck „Elektrischer Stuhl“ und ein gewaltiger Geldstein von den Yap-Inseln im Pazifischen Ozean. Was das miteinander zu tun hat? Als Adam und Eva den von der Schlange feilgebotenen Apfel aßen, gaben sie das Paradies für die Erkenntnis hin, Schuld kam über sie. Der Austausch von Waren und Gefühlen, das Wechselgefüge ist die Grundlage menschlichen Zusammenseins. In der Wirtschaft regeln Zahlungsmittel den Verkehr, ob die Währung nun archaische Geldsteine oder digitale Bitcoins sind. Auch wie eine Gesellschaft mit Schuld und Verbrechen umgeht, hat sich Jahrtausende später kaum verändert. In einigen US-Staaten gilt noch heute das alttestamemtarische Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn – dort wird Mord mit der Todesstrafe gesühnt.
Natürlich ist das essayistisch, sprunghaft, ein systematisch geordnetes Bildungserlebnis sucht der Besucher vergeblich. Wer aber Freude an den weit gespannten Assoziationen, am freien Kombinieren hat, muss mehrfach wiederkommen, so viele Ansätze, Filme (von Hans-Jürgen Syberberg „Hitler. Ein Film aus Deutschland“ in voller siebenstündiger Länge!) gibt es zu sehen, so viel zu staunen, 130 Werke insgesamt. Wer weiß schon, dass Bob Dylan einen Werbefilm für Daimler Chrysler gedreht hat, in dem er den Deutschen das Bierbrauen, den Chinesen das Handykonstruieren und den Amerikanern das Autobauen als nationale Tugend attestiert?
Auch die Ausstellung kennt keine Berührungsängste. Nicht weit vom Armreliquiar des heiligen Bartholomäus aus dem Welfenschatz singt Rihanna „Bitch Better Have My Money“, den sie ihrem Buchhalter, der sie um Millionen betrogen hat, im vergangenen Jahr als Fluch hinterherschmetterte. Caspar David Friedrichs „Riesengebirge“ aus der Alten Nationalgalerie und die Fotografie von Fischli & Weiss vom Flughafen Tokio trennt nur wenige Zentimeter Wand. Während sich der romantische Künstler seine Sehnsucht in die gemalte Landschaft projiziert, berichtet das Schweizer Künstlerduo vom Aufbruch in die große Welt, die am Boden beginnt.
Die Unstillbarkeit, der Drang nach mehr, nach weiter, treibt Künstler wie Eroberer voran. Kapitalisten sind sie alle auf ihre Art.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50 / 51, bis 6. 11.; Di bis Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa / So 11–18 Uhr. Katalog (Kettler Verlag) 49 €.
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