Jonas Kaufmann in der Waldbühne: Urlaub ohne Pause
Startenor Jonas Kaufmann sucht nach „Dolce Vita“ in der Berliner Waldbühne.
Pfützen auf dem Weg, Schlickfallen vor den Treppen: Die Regengüsse der frühen Abendstunden hinterlassen in der Waldbühne ein klammes Gefühl von Nachsaison. Während das Orchester schon die ersten Takte spielt, werden die Bars im unteren Bereich dichtgemacht wie für den Winterschlaf. Ein Herr mit Sonnenbrille schimpft laut hörbar und bekommt noch schnell seinen Plastikbecher, bevor Jonas Kaufmann die Bühne betritt. Eben hat er in seiner Heimat München den Parsifal gesungen, nun lädt er zur italienischen Nacht. Dem unerschrockenen Tenor gelingt es in beinahe allen Genres, seine Fans glücklich zu machen. Diesmal soll es „Dolce Vita“ sein, dem Titel seines zwei Jahre alten Albums folgend – verbunden mit dem per Fotoserie gegebenen Versprechen, ihn einmal befreit von Wagner- und Verdi-Last als sommerlichen Latin Lover zu erleben. 2011 stand Kaufmann schon einmal auf der Waldbühne, zusammen mit Anna Netrebko und ihrem damaligen Mann Erwin Schrott, eine kapitale Ménage à trois. Nun muss es Kaufmann (fast) alleine schaffen. Oben auf den Rängen bleiben Plätze frei.
Die erste Arie muss er aus der Tiefe heraufholen
Zögerlich nur verschwinden Plastikplanen rund um die Bühne, die teure Technik schützen. Kaufmanns Ausflug in die Waldbühne muss sich lohnen, das ZDF sendet den Mitschnitt am heutigen Sonntag um 22 Uhr, die DVD erscheint im Herbst. Doch neue Schauer sollen sich nähern, die Stimmung ist angespannt. Man merkt es Jonas Kaufmann an, der seine erste Arie „Cielo e mar!“ erst einmal aus der Tiefe heraufholen muss. Bevor die Stimme zu Glanz findet, ist die Nummer auch schon um, und ein Kurztrip durch Mascagnis herbe „Cavalleria rusticana“ beginnt: Vorspiel, Arie von Überraschungsgast Anita Rachvelishvili, Duett, Zwischenspiel und dann erst wieder Kaufmanns Solo: Der Abschied von Turiddu, der sich fortstiehlt zu einem Duell ohne Wiederkehr. Auch dies eine klamme Szene, immerhin mit etwas mehr Licht in der Höhe. Danach teilt der Tenor mit, man werde auf die Pause verzichten, um so viel wie möglich singen zu können vor dem drohenden nächsten Wolkenbruch.
Neapolitanische Heulseufzer, in Stein gemeißelt
Kaufmann taucht in Turnschuhen wieder auf, nachdem Dirigent Jochen Rieder die Noten für die zweite Hälfte geholt hat. Nun soll es endlich Canzoni geben, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wogt, die Scheinwerfer rauschen beinahe so laut wie das Meer, Regenpelerinen knistern. „Caruso“ und „Il canto“, die Kaufmann auf seinem Album noch selbst singt, überlässt er nun der Mezzosopranistin Rachvelishvili. Es sind Nummern, mit denen Pavarotti Millionen begeisterte. Kaufmann provoziert keinen Vergleich in dieser Nacht, weil er weiß, dass seine Stimme vor allem unten herum zulegt. Leichtigkeit bleibt dabei auf der Strecke, auch ein bisschen Leichtsinnigkeit, wie sie in der Seele dieses populären Genres schlummert. Doch Kaufmann kann nicht schlampen, bei „Torna a Surriento“ setzt er jeden neapolitanischen Heulseufzer, als sei er in Stein gemeißelt. Lässigkeit und Ironie haben erst bei den Zugaben mit „Volare“ eine Chance, in der auch Rachvelishvili komisches Talent beweist. Der letzte Urlaubsflieger des Tages startet von Tegel in den Berliner Nachthimmel. Doch die Arbeit für den Hardest Working Tenor im Show Business endet nie.