"Fidelio" in Salzburg: Schrei nach Freiheit
Wenn das Libretto lügt: Claus Guth inszeniert Beethovens Gefangenen-Oper „Fidelio“ in Salzburg als Drama ohne Ausweg – und Jonas Kaufmann triumphiert.
„Fidelio“ ist eine Zumutung für Tenöre. Erst müssen sie den kompletten 1. Akt in der Garderobe warten – und wenn sie endlich dran sind, haben sie aus dem Stand eine der heikelsten Arien des deutschen Fachs zu singen. Trotzdem tritt Jonas Kaufmann regelmäßig in Beethovens einziger Oper auf, seit 13 Jahren schon. 2010 war er bei einer CD-Gesamtaufnahme unter Claudio Abbado dabei.
Wenn der Megastar jetzt in Salzburg mal wieder als Florestan annonciert ist, läuft das Kassentelefon heiß: Denn seit Rolando Villazóns Stimmkrise ist Kaufmann in der Gunst des Opern-Jetsets zum legitimen Nachfolger Placido Domingos aufgestiegen. Alle wollen dabei sein, wenn der Beau aus München im Festspielhaus singt. „Ich erhalte viele böse Mails, weil Leute keine Karten mehr bekommen haben“, sagt Festivalpräsidentin Helga Rabl-Stadler. Und Interims-Intendant Sven-Eric Bechtolf beeilt sich zu betonen, dass selbstverständlich „das gesamte Ensemble“ der Produktion „herausragend“ sei, dass Regisseur Claus Guth ein „hochinteressantes Konzept“ habe und das bloße Engagement von Herrn Kaufmann keine Inszenierung zum „Selbstläufer“ mache.
Bei der Premiere aber ist der Auftritt des Tenors das absolute Highlight. Der Saal hält den Atem an, bevor die Kerkerszene mit dem berühmten „Gott, welch dunkel hier!“ beginnt. Der Schrei aus der Finsternis, als Stöhnen erst, dann auf dem „O“-Vokal anschwellend, eine gefühlte Ewigkeit lang, dieser Schrei wird drängender und drängender, bis er den gesamten Raum erfüllt. „Kontrollierte Ekstase“ nannte Herbert von Karajan diese Mischung aus Kunstfertigkeit und technischer Meisterschaft. Eine musikalische, keine naturalistische Entäußerung, ganz im Dienst der Figurenzeichnung. So bekommt man dieses Crescendo derzeit nur von Kaufmann zu hören. Auch die anschließende Arie ist beeindruckend durchdrungen, dieses Lied vom Leid, das der politische Gefangene durchlebt hat.
Florestan und Leonore werden von Doubles begleitet - was eigentlich überflüssig ist
Jonas Kaufmann ist der einzige Sänger des Abends, der realistisch schauspielern darf. Alle anderen sind vom Regisseur dazu verdonnert, Schatten ihrer selbst zu sein. Wobei Leonore, die als Mann namens Fidelio verkleidet ihren Gatten zu befreien versucht, und Polizeichef Pizarro zusätzlich von Doppelgängern begleitet werden. Titelheldin Adrianne Pieczonka von einer Frau, die sich in Gebärdensprache verständlich zu machen sucht, der in „Matrix“-Manier gekleidete Tomasz Konieczny von einem Mann, der ständig mit einem Messer herumfuchtelt.
Beide Künstler bedürften eigentlich keiner szenischen Verdeutlichung ihrer inneren Angelegenheiten. Denn beide sind ausdrucksstarke Interpreten, Adrianne Pieczonka eine Leonore mit lyrischem Sopran, aber festem Willen, Konieczny ein flammenzüngiger, auch körperlich sehr präsenter Bassbariton. Doch Claus Guth hat ein Konzept, und dem müssen sich alle fügen. Er will von dem ganzen Freiheitsquatsch nichts wissen, den Beethoven dem Publikum auftischt.
Von wegen „alle Menschen werden Brüder“: Gefangene ihrer selbst sind sie für den Regisseur, auch die „Guten“ haben ihre Abgründe. „Eine geglückte Flucht über die Brücke zum Paradies ewiger Freiheit und Glückseligkeit findet nicht statt“, meint er. Das Libretto lügt, die Schauplätze sind so unglaubwürdig wie das Happyend, bei dem Florestan in letzter Sekunde durch einen deus ex machina in Gestalt des ehrbaren Ministers gerettet wird. Punktum.
Franz Welser-Möst sieht in dem Werk eine "Musik mit Handlung"
Natürlich ist die Versuchsanordnung von Guth und seinem Ausstatter Christian Schmidt penibel durchdacht und spannend anzuschauen. Von großbürgerlicher Gefühlskälte erzählen die Kostüme wie auch die Holzvertäfelung des fensterlosen Saals, die hier das „Gefängnis in der Nähe von Sevilla“ ersetzen. Ein bedrohlicher schwarzer Kubus verweist in blendend weißem Ambiente auf die Präsenz dunkler Mächte. Später wird sichtbar, dass darunter bereits das Grab für Florestan ausgehoben war.
In den Arien und Ensembles beschränken sich die Sänger auf ein gestisches Minimum, die Dialoge sind komplett gestrichen und durch Soundinstallationen von Torsten Ottersberg ersetzt: Wind, schwerer Atem, metallisches Knirschen, Pieptöne, Rauschen, eine Glocke. Die Figuren bewegen sich wie Nachtwandler, sprachunfähig, orientierungslos. Lebendiger als diese Lemuren wirken ihre Schatten, die wie Scherenschnitte an den Mauern tanzen. Erstaunlich, wie viele unterschiedliche Lichtstimmungen sich diesem NichtRaum abgewinnen lassen (Lightdesign: Olaf Reese). Die Atmosphäre bleibt aber immer so hart und kalt, dass sich Applaus nach den Arien geradezu verbietet. Wagen es dann doch ein paar Zuschauer, erstirbt das Klatschen schnell wieder. Eine Oper ohne Menschen zeigt Claus Guth.
Franz Welser-Möst dirigiert dazu eine Sinfonie in zwei Akten. Auch er ist davon überzeugt, „dass es Beethoven nicht um Einzelschicksale geht“. Sondern um eine Idee, darum „seine eigene Philosophie in die Köpfe der Menschen zu bringen“. Deshalb habe der Komponist so lange mit der Gattung gehadert, den „Fidelio“ zwei Mal umgearbeitet, vier Ouvertüren komponiert. Eine „Musik mit Handlung“ sieht Welser-Möst in dem Werk – und vermag das Primat des instrumentalen Tons mit den Wiener Philharmonikern auf atemberaubende Weise umzusetzen.
Elektrisierend präsent der Sound aus dem Graben, der so weit hoch gefahren ist wie sonst nur bei Mozart-Werken, scharf, leuchtend. Wer hätte den traditionsverliebten Damen und Herren aus dem Musikvereinssaal zugetraut, dass sie die Knackigkeit eines Alte-Musik-Ensembles herstellen können, wenn sie nur wollen? Inspirierende Probentage müssen das gewesen sein, aufregend ist das Live-Ergebnis jetzt, ergreifend nahe kommt die Klangrede den Ohrenzeugen im Saal. Eine Musik, die tatsächlich von Utopien erzählt. Und die Sänger noch weiter in den Hintergrund treten lässt, etwa Olga Bezsmertnas Marzelline und Hans-Peter Königs Rocco.
Florestan, man ahnt es schon, ist nach seiner Befreiung nicht in der Lage, in den Jubel einzustimmen. Dafür hat ihn die Einzelhaft zu sehr traumatisiert. Jonas Kaufmann spielt das eindrucksvoll, zuckt bei jeder Berührung zusammen, kann helles Licht, laute Töne nicht ertragen. Bei den letzten Takten des „Namenlose Freude“Duetts tritt er zurück in den Schatten, den der mittlerweile im Bühnenhimmel verschwundene Kubus immer noch wirft. Dann fällt der Vorhang, und Franz WelserMöst dirigiert die 3. Leonoren-Ouvertüre mit den charakteristischen Freiheits-Signalen der Trompete. Ein starker Schluss wäre das gewesen, hier abzubrechen, der Musik das letzte Wort zu überlassen. Doch Guth hat den Partitur-Eingriff nicht gewagt – oder nicht durchsetzen können. Das Jubelfinale wird gezeigt, als szenischer Wurmfortsatz, in dem überflüssig gedoppelt wird, was zuvor schon erschöpfend gesagt wurde. Schade.
3sat sendet eine Aufzeichnung der Inszenierung am 22. August um 20.15 Uhr