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Unbekannte haben den Figuren einer Bronzeplastik in Jena Mundschutz angelegt.
© Sebastian Willnow/dpa

Lehren aus der Coronakrise?: Unter Intellektuellen grassiert die Seuche der Selbstversicherung

Schon jetzt erklären Soziologen, was wir aus der Coronakrise lernen. Dabei ist sie vor allem ein Brennglas für die Tristesse der intellektuellen Öffentlichkeit Deutschlands. Ein Essay.

Marcus Quent studierte Philosophie und Theaterwissenschaft in Leipzig und Wales. Er promoviert an der Universität der Künste in Berlin. Letzte Veröffentlichung: „Kon-Formismen. Die Neuordnung der Differenzen“, Merve Verlag 2018. Zunächst erschien dieser Essay auf textem.de

Wer in den stillgelegten Tagen des gesellschaftlichen lock downs wieder einmal etwas regelmäßiger Zeitung liest, Radio hört oder gar fernsieht, der wird auf nahezu allen Kanälen eingelullt von einer abgestandenen Rhetorik der Besinnung und des Lernens, regelrecht benebelt von einer Lobrede der Solidarität. Es heißt, das Virus sei eine Art Vergrößerungslinse für bestehende gesellschaftliche Probleme, Schieflagen und Ungleichheiten. Doch nicht nur manifeste Unterdrückung und Ausbeutung werden durch die Folgen des Virus sichtbarer. Die Pandemie ist auch ein Brennglas für die Tristesse der intellektuellen Öffentlichkeit Deutschlands.

Wenn in den Medien Soziologen oder Philosophen zu den Effekten der Viruskrise auf das Leben der Einzelnen befragt werden, wenn sie über die längerfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen nachdenken, fällt häufig der Satz, dass man es mit einer völlig neuartigen Situation zu tun habe, die für alle unbekannt und deren Entwicklung unvorhersehbar sei. Merkwürdigerweise scheint sich das nicht auf die eigene Analyse auszuwirken. Denn der Rückgriff auf die von den Theoretikern etablierten Motive und Begriffe, die Abstimmung auf die eigenen Themen scheint meist recht zügig vonstatten zu gehen.

Hintergrund über das Coronavirus:

Für Wilhelm Schmid, den Experten in Sachen Gelassenheit, Lebenskunst und Selbstfreundschaft, regt der Verzicht, den die Pandemie mit sich bringt, den Einzelnen an, darüber nachzudenken, was ihm im Leben wirklich wichtig ist. Auch Harald Welzer kann sich vorstellen, „dass die rapide abgebremste Taktfrequenz der Gesellschaft dazu führt, dass viele gucken, was sie Sinnvolles mit ihrer plötzlich gewonnenen Zeit anfangen können.“ Beide Autoren erkennen in der krisenhaften Situation ein Reflexionspotenzial, das bei den Einzelnen und der Gesellschaft im Allgemeinen die Sinnfrage reaktiviere und eine kritische Neubewertung stimuliere. Heinz Bude, der soeben ein Buch über Solidarität veröffentlicht hat, will in den Reaktionen auf die Corona-Krise erkennen, dass Gesellschaften neu beginnen, „Solidaritätsräume zu definieren.“

Eigene Theorien im Virus wiedererkennen

Dadurch, dass alle gemeinsam empfinden, wie verwundbar sie seien, ergebe sich „ein Gefühl wechselseitiger Sorge und Verantwortung“. Laut Hartmut Rosa wiederum, der in der von der Krise erzwungenen Entschleunigung auch Potenziale ausmachen will, befinden wir uns durch das Virus in einem „kollektiven Resonanzmoment“, die erzwungene „Weltreichweitenverkürzung“ aktiviere bei uns einen „Resonanzmodus“.

Trotz der allgemeinen Betonung des Unbekannten, Neuartigen und Herausfordernden, die genannten Experten eint die Tendenz, umgehend sich selbst, das heißt die eigene Theorie und die eigenen Begriffe, im Virus wiederzuerkennen und bestätigt zu sehen. Die Pandemie bietet ihnen die Möglichkeit, Sätze zu ihrer Analyse zu formulieren, die bereits vor dem Auftauchen der Pandemie von ihnen hervorgebracht worden sind.

Offenkundig wird die Mittelmäßigkeit und Harmlosigkeit einer Großen Koalition von eingespielten public intellectuals, die man hierzulande an zwei Händen abzählen kann. Sichtbar wird aber auch, was nach einem jahrzehntelangen Kahlschlag des Bildungssektors und einer öffentlichen Austreibung des Geistes vom sogenannten kritischen Denken übrig ist. Tonangebend ist eine durch und durch entschärfte, brave, meist sozialdemokratische Form des Denkens, die in den deutschen Zeitungs- und Hörfunkredaktionen kultiviert und nachgefragt wird. 

Eine frömmelnde Virus-Ethik

Ostentativ bedienen die betriebsmäßigen Intellektuellen, die als Experten befragt werden, den Modus der kritischen Infragestellung, bringen aber dennoch meist viel Zustimmungsfähiges hervor. Sie betreiben eine Art der Reflexion, die selten Überraschendes, Irritierendes oder Herausforderndes zutage fördert, eine Art des kritischen Räsonierens, die breites Einverständnis erzeugt.

Sekundiert wird diese kritische Intellektualität in der medialen Öffentlichkeit von einer frömmelnden Virus-Ethik, in deren Rahmen sich die Pandemie als das Geschehen einer großen Selbstverzauberung entpuppt. Die Virus-Ethik ist von der Tendenz beseelt, in der Krise eine Besserungsapparatur der Gesellschaft, der Menschheit im Allgemeinen zu erblicken. 

„Seit einigen Tagen gehen die Menschen spürbar takt- und respektvoller miteinander um“, beobachtet etwa Konstantin Sakkas in seinem Kommentar für den Deutschlandfunk. Die Transformation, die er auszumachen meint, ist umfassend: „[A]ll die alltäglichen, oftmals nervigen, selten bereichernden Verrichtungen bekommen auf einmal einen höheren Ernst. [...] Der Daseinskampf des Alltags wird plötzlich überlagert von jenem Kampf ums Dasein, der ungleich höher potenziert ist, in dem es nicht um Status und Macht geht, sondern um Respekt, Würde und, ja: Tugendhaftigkeit.“

Rede des Verzichts

Die naheliegende Frage, warum eine existenzielle Kampfsituation der eigentliche Auftrittsort von Respekt, Würde und Tugend sein soll, sei an dieser Stelle ausgespart. Kommentare wie dieser stellen einen Extremfall des weihevollen Pathos und emporstilisierten Ernstes dar. Er ist jedoch exemplarisch für die weit verbreitete Neigung, das Unvermeidliche und Gegebene, die Kontingenz in ihrer Erbarmungslosigkeit, mit Sinn auszuschmücken.

Das Unerträglichste aber ist der bußfertige Unterton, der hier wie in anderen Einlassungen und Kommentaren zum Ausdruck kommt. Es gibt eine regelrechte Lust, sich selbst andachtsvoll in die Tasche zu lügen und aus dem Virus ein Requisit für die Aufführung der eigenen Besserungsfähigkeit zu machen, gepaart mit einer Art zur Schau gestellten schuljungenhaften Lernbereitschaft.

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Erstaunlich ist auch, wie dabei gebetsmühlenartig die Rede des Verzichts vorgetragen wird, wie man sich bereitwillig einschränken lässt, demutsvoll, ganz so, als hätte man insgeheim lange auf eine solche Situation gewartet. Das alles soll freilich im Namen und im Dienste einer ideellen Allgemeinheit geschehen. Sie bleibt jedoch in den meisten Ausführungen völlig leer und abstrakt. Es ist die Allgemeinheit einer Gesellschaft, der im üblichen Alltag keine andere Funktion zukommt als nackte Bestandserhaltung. 

Falsches Pathos der Solidarität

Die allgemeine Rede über Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis, die jetzt allerorten betrieben wird, ist allenfalls eines: Selbstbeweihräucherung. Statt eine Konjunktur der Lernbereitschaft, Selbstbesinnung und der Solidarität auszurufen oder Lobpreisungen der Tugendhaftigkeit anzustimmen, sollte man sich vielmehr darauf konzentrieren, die intakten Mechanismen der intellektuellen Selbstversicherung zu entzaubern, die das Denken lähmen. Eine Einsicht aus der psychoanalytischen Praxis besagt, dass insbesondere dann, wenn ein Analysand meint, unvermittelt selbst angeben zu können, was der Sinn oder die Bedeutung einer Erfahrung sei, Skepsis geboten ist. 

Man glaubt, in einer krisenhaften Situation etwas zu lernen – und noch darüber täuscht man sich. Es ist erstaunlich, wie schnell in der Presse Artikel und Essays aus dem Hut gezaubert worden sind, die bereits in den ersten Tagen der Einschränkungen davon handelten, was man alles aus dieser Krise lerne oder gelernt haben werde, wie uns die Pandemie als Menschen nachhaltig verändern werde und so fort. Von allen wird die Rede über das vermeintlich Erlernte viel schneller eingeübt als der Lernprozess selbst. Man gaukelt sich und anderen bereits ein Wissen über Erfahrungen vor, die ja eigentlich erst zu machen wären – und die, wenn es denn wirklich Erfahrungen sind, diese ganze eingeübte Rhetorik auch unterbrechen müssten.

Abstand nehmen muss man derzeit nicht zuletzt von einem falschen Pathos der Solidarität, der in der gegenwärtigen Situation besonders weit verbreitet ist. Solidarität, die es zweifellos gibt, wird dabei häufig trivialisiert und von ihrer bloßen Rhetorik substituiert. Plötzlich soll überall Solidarität erblühen. Auch Regierungen und Institutionen appellieren an Solidarität, die in ihrem Normalgeschäft alles dafür tun, sie abzubauen und auszutreiben, ihre Grundlagen zu zerstören. 

Was ist von politischen Vertretern zu halten, die sich empören oder gar vertrottelt darüber wundern, dass sich in einer krisenhaften Situation plötzlich auch egoistische Verhaltensweisen zeigen, dass sich auch berechnendes, auf Gewinnmaximierung abzielendes Marktverhalten bahnbricht? Es ist ein Egoismus, der tagtäglich systemisch gefördert wird, ein Egoismus der kapitalistischen Subjektivität, der trainiert, kultiviert und gelebt wird. Das Virus: ein großes Schauspiel des kritischen Denkens und der frömmelnden Moral.

Marcus Quent

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