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Auf dem Platz hinter dem Fernsehturm feiern die Menschen am 03.10.1990 den Tag der deutschen Einheit.
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25 Jahre Deutsche Einheit: Unsere Träume waren recht pragmatisch

Der Wissenschaftler Jens Reich hat die Revolution in der DDR als Bürgerrechtler miterlebt. Für uns hat er über die Hoffnungen von damals und die Herausforderungen von heute geschrieben.

Revolutionen  werden von jungen Menschen gemacht, die weit fliegende Träume haben. Die große Französische Revolution, als Beispiel, ist von Menschen vorangetrieben worden, die in ihren zwanziger, dreißiger Lebensjahren waren, man überzeuge sich in den Biografien: Danton, Robespierre, Desmoulins, Bonaparte, sogar Fouché und Talleyrand.

Der Bürgeraufstand in der DDR 1989 war demgegenüber einer der mittleren Generation, der Menschen im Familienalter. Die junge Generation war weniger vertreten, allenfalls als Initialzünder. Ihr Exodus über Grenzen und Botschaften war ein Weckzeichen: Ein Land, dem die Jugend wegläuft, hat eine trübe Zukunft.

Bei den Verbliebenen gab es keine hochfliegenden Träume, keinen Aufbruch in eine neue Welt. Die Menschen forderten im Grunde nur die Herstellung von Normalität, wie sie in Westeuropa seit jener fernen Französischen Revolution und nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts entstanden war. Sie wollten Reformen, keine Umwälzung aller Verhältnisse. Sie wollten ein Ende der Stagnation mit langsamem Abwärtstrend von Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie, für den die Sowjetunion stand, mit den Mahnzeichen des sich verloren dahinschleppenden Afghanistankrieges und der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Im Gegensatz zu den Herrschenden sympathisierten die Beherrschten mit den Reformversuchen von Gorbatschow. Auch er wollte Normalität, so wie sie jeder vernünftige Mensch verstand. Daher kam seine Popularität.

Keiner redete von Deutscher Einheit

Wir hatten politische Vorstellungen von Wahlen, die den Begriff verdienten, von Medien, in denen nicht alles entweder öde Predigt oder schale Unterhaltung wäre, von einer Schule, die mehr zu bieten hätte als Disziplin und Langeweile, als Morgenappell und politische Lippenbekenntnisse, mehr als die Militärdoktrin und die Vorbereitung auf den erniedrigenden Dienst in der Volksarmee für die Jungen. Wir träumten sehr bescheiden von freizügiger Beweglichkeit ohne vorherige strenge Durchleuchtung und hoheitsvolle Genehmigung des vorgeschobenen Verwandtenbesuchsgrundes durch die Polizeibehörde.

Wir träumten davon, ein Auto kaufen zu können, bevor das halbe Erwerbsleben vorbei wäre, davon, ein Hausdach repariert oder die Wasserleitungen erneuert zu bekommen, ohne endlos nach Ziegeln oder Rohren anstehen oder besser Ausgestattete mit Westgeld bestechen zu müssen. Und manche unter uns (nicht allzu viele) wollten die Politik reformiert, den Alleinanspruch der Partei beschnitten, die ökologisch verantwortungslose Kommandowirtschaft aufgelöst, die Paragrafen wegen staats- und verfassungskritischer Tätigkeit abgeschafft und die als Buchstaben vorhandenen Freiheitsrechte wiederhergestellt sehen.

All das sollte ein Angebot werden an die Nachwachsenden, dass sie nicht ein Leben in verdrießlicher Stimmung in inneren oder äußerlich sichtbaren Nischen und Datschen oder in perspektivloser Verweigerungshaltung erwarten sollte, sondern eines, in dem man frei und kreativ ausgreifen würde und dabei im eigenen Lande den Raum zum Atmen hätte.

Von Deutscher Einheit war in den DDR-Jahren kaum die Rede – sie galt als unerreichbar. Die sowjetischen Panzer hatten im Juni 1953 Demonstrationen zusammengeschossen. Die Sowjetarmee hatte gegen Budapest einen Vernichtungsfeldzug geführt, als dort die Unabhängigkeit ausgerufen wurde. Sie hatte den Prager Frühling von 1968 zermalmt. Nach Polen waren sie nur nicht einmarschiert, weil die Machthaber im Lande den Bürgerkrieg gegen Danzig, Warschau und Schlesien selbst übernommen hatten. Was war Besseres zu erwarten, ausgerechnet im westlichen Vorposten DDR, wenn man erneut (so wie 1953) die Wiedervereinigung fordern würde? Wer so etwas wirkungsvoll unternähme, so überlegten wir, würde verantwortungslos handeln, er riskierte den Einmarsch mit dem voraussehbaren Ergebnis des Gegenteils von dem, was man anstrebte.

Es hat sich herausgestellt, dass da doch ein Fenster offen war – eine begrenzte Zeit lang, bevor dann doch 1991 Gorbatschows Schleudersessel betätigt wurde und es mit allen Reformen ein Ende hatte. Da war Deutschland glücklicherweise bereits vereinigt und die sowjetische Armee auf dem Heimweg aus ihren Kasernen.

Man wollte Freiheit und eine gemeinsame Verfassung

Das Volk der DDR hatte sich lange in politischer Vorsicht geübt. Bis in den Oktober 1989 verlangten sogar die Demonstrationen nur Bürgerrechte, zum Beispiel die freie Auswanderung. Als die Menschen jedoch sahen, dass niemand mehr verhaftet wurde, der „Deutschland – einig Vaterland“ skandierte, setzten sie genau dieses Projekt auf die Tagesordnung. Die freien Wahlen, von der Volksbewegung durchgesetzt, erteilten den eilig zusammengerufenen Repräsentanten den unmissverständlichen Auftrag zur Vereinigung mit dem anderen Deutschland. Es gab zwar viele pathetische Worte, aber im Grunde verlangte das Volk in seiner großen Mehrheit damit nichts weiter als eine Art Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik, ohne das Land physisch zu verlassen.

Man wollte frei sein, ohne Behördenkommandos, und ein Leben führen wie die Menschen in der Bundesrepublik. Was man noch wollte: dass „die Russen“ aus den Militärlagern verschwänden, die ein Viertel des Territoriums besetzt hielten. Aber das wurde nicht als Forderung ausgesprochen, das verhinderte die altvertraute Vorsicht. Sie vertrauten das Helmut Kohl und Michail Gorbatschow an und wurden nicht enttäuscht. So kam es am 3. Oktober 1990 zur freiwilligen Selbstauflösung der DDR, dem Staat, in dem die meisten mehr oder weniger mürrisch ihr ganzes bewusstes Leben verbracht hatten, und das sie auf noch lange, noch heute, erlebbare Weise mental geprägt hatte. Die Bürgergruppen, die den Herbst 1989 ausgelöst und begleitet hatten, wollten noch mehr, eine gemeinsame neue Verfassung zum Beispiel, aber das alles stellte sich bald als Illusion heraus und wurde nachsichtig wahrgenommen und in Parlamentsausschüssen langsam beerdigt. Die Behörde für die Transparenz des Stasi-Erbes war das einzige weiterwirkende Produkt jener Bürgerbewegung, der ich mich auch verbunden fühlte.

Die Träume haben sich die Kinder erfüllt

Was aus den Träumen geworden ist? So fragen mich jetzt manche. Mein erster Impuls ist die Gegenfrage: Welche Träume? Die aus meiner Jugend, als ich davon träumte, Frankreich, Italien, England, Amerika zu sehen, dort zu studieren oder arbeiten? Was von diesen Träumen damals erfüllbar schien, das hatte der Mauerbau vom 13. August 1961 zerschlagen. Ich war damals 22 Jahre alt, und es ist der entscheidende, härteste Tag meines erwachsenen Lebens geblieben. Widerstrebend und langsam habe ich danach die biografische und mentale Prägung durch den europäischen Osten, Moskau, Warschau, Prag und alles andere angenommen und dabei doch immer alles aufgesaugt, was ich aus dem Westen, aus dem deutschsprachigen Kulturraum, aus Frankreich und England bekommen konnte, elektronische Pixel und Soundbites, selten genug gedruckte Buchstaben.

Von den Irrungen und Wirrungen der Bundesrepublik, von den großen Bewegungen und ihren Erfolgen habe ich, wie ich heute weiß, durch ein Käfiggitter getrennt bewusst mehr wahrgenommen und verinnerlicht als viele Landsleute im Westen, dank unseres unersättlichen Hungers nach politischer Information, durch die Reportagen im Fernsehen und mit unserer Radio-Standleitung zum Deutschlandfunk, wie sich einmal ein Kollege ausdrückte.

Unsere Kinder, alle drei, haben alle die Chance ergriffen, die sich ihnen 1990 geboten hat, und sind in die weite Welt ausgeflogen, haben studiert, gearbeitet, Familien gegründet. Es sind neun, demnächst zehn Enkelkinder auf der Welt. Wir sehen sie alle, auch diejenigen, die über den Globus verstreut sind, regelmäßig zu gemeinsamen Ferien in der Uckermark. Wenn es so gekommen wäre, wie Erich Honecker sich das dachte, dann wären wir im Osten geblieben und wären auf Guck- oder Kriechlöcher durch die Mauer angewiesen, nach dem Gutdünken der Machthaber.

25 Jahre Frieden

Unsere damals in der DDR gemeinsamen, schier unerfüllbaren Freiheitsträume waren, von heute gesehen, recht pragmatisch: Freizügigkeit, demokratische und persönliche Freiheitsrechte, Leben in vernünftigen Verhältnissen, eine funktionierende Zivilgesellschaft, Normalität des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. Alle diese Erwartungen sind 1990 erreicht worden, mit Abstrichen allerdings, wie immer im Leben. Wir hatten 25 Jahre Frieden seither – auch das mit Abstrichen! – und konnten in einer Welt leben, wie wir sie uns ähnlich in unseren jungen Jahren gewünscht hatten, wenn auch leider sehr spät, lange nach der Jugendzeit, in der wir davon geträumt hatten. Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass wir in der DDR uns die bedeutenden bürgerlichen Freiheiten selbst genommen haben. Der 3. Oktober steht für mich für das Ende einer unnatürlichen, oktroyierten staatlichen Spaltung unserer Nation. Die Jahrestage begehe ich in Ruhe. Träume habe ich keine mehr, aber ich bin froh, in diesem Lande zu leben und den Rest meines Lebens zu bleiben.

Antworten in diesem Sinne würde es sicher viele aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis und meiner beruflichen Umgebung geben. Aber ich will nicht vergessen, dass ich auch Lebensbahnen kenne, die den Bruch von 1990 nicht gut überstanden haben. Dies betrifft vor allem Menschen, die damals wie ich im mittleren Alter waren, oder sogar noch älter. Ich kenne Kollegen, denen der abrupte Wechsel beruflich überhaupt nicht gutgetan hat. Auch meine Eltern sind als Altersrentner mit den neuen Verhältnissen nicht gut gefahren und haben materiell leiden müssen. Es gab da eine Generation, die durch schwere Zeiten gegangen war und von denen viele nicht sehr gut ins neue Deutschland hineinkamen.

Jens Reich (76) gehörte als Mitbegründer des Neuen Forums zu den prominentesten Bürgerrechtlern der Wendezeit. Der Mediziner und Molekularbiologe war von 2008 bis 2012 Mitglied im Deutschen Ethikrat.
Jens Reich (76) gehörte als Mitbegründer des Neuen Forums zu den prominentesten Bürgerrechtlern der Wendezeit. Der Mediziner und Molekularbiologe war von 2008 bis 2012 Mitglied im Deutschen Ethikrat.
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Der Wandel muss weitergehen

Ich bin zufrieden, habe ich eben geschrieben. Das gilt für mich, für meine Frau, auch meine Familie, in unserer Lebenswelt. Es gilt nicht mehr so selbstverständlich für unsere Kinder und Enkelkinder. Sie finden ihren Weg im Leben, das ist klar. Aber wir sorgen uns für sie darum, ob Deutschland, ob Europa in Zukunft die Kraft behalten wird, die es, mit allen Einschränkungen gesagt, heute besitzt. Der Frieden ist nicht stabil. Heute haben wir wieder Krieg und Bürgerkrieg in erreichbarer Nähe, im europäischen und im Nahen Osten, in Nordafrika am Mittelmeer. Die globale Wirtschaftslage ist wacklig. Ob die Menschheit mit der anstehenden ökologischen Weltkrise fertig wird, ist nicht ausgemacht.

Wir haben uns in den 70er Jahren bei den Machthabern unbeliebt gemacht, indem wir die Erkenntnisse des Club of Rome debattierten und in der DDR verbreiteten. Mit dem Grundansatz des falschen Wachstumsmodells in einer endlichen Welt und den materiellen Belastungen durch Ressourcenknappheit und Vermüllung der Lebenssphäre haben die damaligen Warner immer noch recht, wenn auch nicht mit allen Einzelheiten. Immer noch leben wir über unsere Verhältnisse, sehen nicht das absehbare Ende unserer Lebensweise, das drohende Ende vielleicht sogar der Biosphäre, so wie sie ist. Wir hoffen, dass es noch nicht zu spät ist, denn geschehen muss ein grundlegender Wandel. Das allerdings müssen die nächsten Generationen leisten.

Der Wissenschaftler Jens Reich ist Mediziner und Molekularbiologe. Bekannt geworden ist er vor allem als Bürgerrechtler in der DDR während der Wendezeit. Er war Mitglied im Deutschen Ethikrat und ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Jens Reich

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