25 Jahre Deutsche Einheit: Das Erbe - was von der DDR blieb
Nicht nur das Ampelmännchen hat die DDR überlebt. Auch anderes Bewährtes hat sich im vereinten Deutschland inzwischen wieder etabliert. Ein Überblick.
- Matthias Schlegel
- Rainer Woratschka
- Cordula Eubel
- Susanne Vieth-Entus
- Katrin Schulze
- Dagmar Dehmer
Als in den 90er Jahren, nach den grundstürzenden Ereignissen wie friedlicher Revolution, Mauerfall und deutscher Einheit, wieder der Alltag einkehrte, wich bei den Menschen in den östlichen Bundesländern die Euphorie rasch der Ernüchterung. In schmerzhaften Transformationsprozessen brach nicht nur ein wirtschaftliches System zusammen und mit ihm ungezählte Unternehmen und Arbeitswelten, sondern es wurden auch vertraute Wertvorstellungen und Lebensentwürfe in Frage gestellt.
Viele ehemalige DDR-Bürger hatten den Eindruck, der Beitritt zur Bundesrepublik gehe damit einher, dass alles, was nach DDR aussah, in den Mülleimer der Geschichte geworfen wurde. Die Formulierung "Es war nicht alles schlecht" schien denjenigen, der sie äußerte, als unbelehrbaren Ostalgiker erscheinen.
Im Laufe der Jahre haben sich manche Vorurteile erledigt, gesamtdeutsche Erfahrungshorizonte haben sich auch nach Osten hin erweitert, eigentlich längst entschwundene Institutionen aus DDR-Zeiten tauchten in neuem Gewand wieder auf. Viele Ostdeutsche registrieren es mit stiller Genugtuung.
Polikliniken
Sie galten als Überbleibsel der DDR und wurden nach der Wende auf Betreiben der konservativen Ärzteschaft und der schwarz-gelben Bundesregierung in Windeseile abgewickelt: Von den 5248 Polikliniken mit angestellten Fachärzten im November 1989 existierten im Januar 1992 gerade noch 433. Und nach den fünf Jahren Übergangszeit, die der Einigungsvertrag den Betreibern gelassen hatte, waren lediglich im renitenten Ostberlin und Brandenburg einige wenige solcher Zentren übriggeblieben. Für die Arztfunktionäre des Westens waren ambulante Mediziner nur als Selbständige und Freiberufler denkbar. Dabei schwärmten auch die Ostdeutschen, die von ihrem System ansonsten die Nase voll hatten, in den höchsten Tönen von ihren staatlichen Polikliniken.
„Sie waren schlecht ausgestattet und auch baulich in jämmerlichem Zustand“, sagt der einstmalige Grünen-Politiker Bernd Köppl, der die verbliebenen Poliklinik-Hinterlassenschaften in Ostberlin als Geschäftsführer über Jahre weiterbetrieb. „Aber die Strukturen der medizinischen Zusammenarbeit waren optimal für dieses arme Land.“ In den Polikliniken fanden die Patienten auf engstem Raum Mediziner unterschiedlichster Fachrichtung, die miteinander kooperierten und auch eng verzahnt mit den Krankenhäusern arbeiteten. Die strikte Sektorentrennung des westlichen Systems zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken mit ihrer Schnittstellenproblematik gab es nicht.
Dass das insbesondere für alte und chronisch kranke Patienten sehr hilfreich sein kann, kapierte die Politik nur mit Verzögerung. Seit 2004 dürfen auch im Westen Medizinische Versorgungszentren mit angestellten Ärzten betrieben werden. Und dass viele Mediziner inzwischen lieber im Team arbeiten, zwischendurch gerne auch mal familienverträglich arbeiten und die enormen Investitionen in eigene Praxen scheuen, hat zu einem wahren Boom beigetragen.
„Wie Phönix aus der Asche“ habe sich die Idee der Polikliniken seither auch im Westen verbreitet, sagt Köppl, der inzwischen dem Bundesverband Medizinischer Versorgungszentren vorsitzt. Die Gründungswelle halte bis heute an, inzwischen liege der Versorgungsanteil durch solche Zentren bundesweit bei sieben bis neun, in Ballungsräumen sogar bei bis zu 15 Prozent. Tendenz weiter steigend.
Kitas
Für viele DDR-Bürger war es eine Selbstverständlichkeit, ihre Kinder in die Krippe oder den Kindergarten zu geben. In die deutsche Einheit starteten die ostdeutschen Bundesländer mit einer fast flächendeckenden Betreuung. Laut Statistischem Bundesamt kamen 1991 auf 1000 Kinder im Alter von bis zu drei Jahren 542 Krippenplätze, eine Relation von 54 Prozent. Vollversorgung gab es für Kinder zwischen drei uns sechs Jahren: Rechnerisch standen für 100 Kinder 114 Kindergartenplätze zur Verfügung.
Ganz anders sah die Betreuungssituation nach der Wende in den westlichen Bundesländern aus, vor allem bei Kleinkindern: Auf 1000 Unter-Dreijährige kamen hier nur 18 Krippenplätze. Im Kindergartenalter bis zu sechs Jahren war das Angebot besser: Auf 100 Kinder kamen hier 80 Plätze.
Seit der Wiedervereinigung hat sich an der Betreuungssituation einiges geändert. In Ostdeutschland ging die Zahl der Kitaplätze deutlich zurück, auch als Folge der sinkenden Geburtenzahlen. Gleichzeitig holten die westdeutschen Länder auf, allerdings zunächst sehr langsam. Zwar stieg zwischen 1990 und 2002 die Zahl der Betreuungsplätze für Kinder bis zu drei Jahren von 28000 auf 51000, die Platz-Kind-Relation verbesserte sich damit aber lediglich von knapp zwei auf knapp drei Prozent. Erst seit einigen Jahren, seit die Politik sich den Kitaausbau auf die Fahnen geschrieben hat, sind hier deutlichere Fortschritte zu spüren.
Verändert haben sich aber nicht nur die Zahlen, sondern auch der Erziehungsstil, wie der Jenaer Soziologe Ronald Gebauer analysiert. Die institutionelle Praxis in den DDR-Kindergärten sei durch „zahllose Indoktrinationsversuche“ geprägt gewesen. Mit der Friedlichen Revolution habe es im Osten auch einen „Prozess der Ablösung von alten Erziehungskonzepten“ gegeben.
Turboabitur und Ganztagsbetrieb
Wer 1990 gehofft hatte, die deutschen Schulsysteme würden so vereinigt, dass von beiden die jeweils besseren Regelungen überdauern könnten, wurde enttäuscht: Die neuen Länder übernahmen die West-Strukturen. Lediglich Sachsen und Thüringen setzten einen eigenen Akzent, indem sie das Abitur nach zwölf Jahren beibehielten.
Inzwischen haben sich die schulpolitischen Prämissen allerdings geändert und führen in einigen Punkten zurück zum DDR-Erbe. Das gilt für die – allerdings immer noch umstrittene – Verkürzung des gymnasialen Abiturs auf zwölf Jahre und es gilt vor allem für den Ausbau der schulischen Ganztagsangebote.
Die zehnjährige Polytechnische Oberschule der DDR für alle Kinder ist zwar nicht zurückgekehrt, aber aus dem dreigliedrigen West-System mit Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien wurde in vielen Bundesländern inzwischen ein Zwei-Säulen-Modell aus Sekundarschulen und Gymnasien.
Anders als in der DDR beginnt das Gymnasium allerdings nicht mit Klasse 11, sondern spätestens mit Klasse 7. Und anders als in der DDR ist die Zulassung zur Oberstufe nicht an Wohlverhalten geknüpft und auch nicht rigoros auf höchstens zehn Prozent eines Jahrgangs beschränkt, sondern für fast 50 Prozent der Schüler möglich.
Jugendweihe
Erwachsen wird man einfach so, ohne große Anstrengung, Aufregung und Aufsehen. Fast unbemerkt. Gäbe es da nicht Rituale wie die Konfirmation, die Kommunion und, ja, auch die Jugendweihe. Einst als sozialistische Pflichtveranstaltung verschrien, feiern sie viele Teenager heute ganz freiwillig. Im Osten Deutschlands entscheiden sich immer noch um die 40 Prozent für Jugendweihen oder Jugendfeiern, wie es jetzt unverfänglicher heißt. Doch auch in den anderen Teilen des Landes haben diejenigen, die nicht sehr religiös sind, diese Möglichkeit für sich entdeckt. Allein der Anbieter Jugendweihe Deutschland e.V. verzeichnete für das Jahr 2014 bundesweit 36.307 Teilnehmer. Gerade in größeren Städten wie Hamburg oder Hannover ist das Konzept zuletzt immer besser angekommen.
Kein Wunder. Mussten die 14-Jährigen früher noch den Einsatz für den Arbeiter- und Bauernstaat, für die sozialistische Gesellschaft und den Kampf gegen die imperialistische Bedrohung beschwören, geht es heute lockerer und lebensnaher zu. „Wir wollen die Jugendlichen auf neue Ideen bringen wollen und sie neue Perspektiven entwickeln lassen“, sagt Daniel Pilgrim vom Humanistischen Verband. „Aber auch mit Krisensituationen im Alltag beschäftigen wir uns.“
Im Angebot sind zum Beispiel Seminare zur Schlagfertigkeit oder zum Thema Mobbing. Dies alles geht dem eigentlichen Festakt voraus und ist vergleichbar mit den sogenannten Jugendstunden, die in DDR auf dem Programm standen. Nur ist die Teilnahme komplett freiwillig. Überhaupt habe sich die Tradition frei denkender Jugendfeiern ja schon Ende des 19. Jahrhunderts etabliert, sagt Pilgrim.
Höhepunkt aber war und ist die Feststunde mit Reden, musikalischen Beiträgen und der Würdigung der Jugendlichen. In Berlin, wo dieses Jahr 6732 Menschen bei den Jugendfeiern des Humanistischen Verbands teilnahmen, geht’s dafür sogar auf die Bühne des Friedrichstadtpalasts. Und da fühlen sich die Kleinen dann vielleicht das erste Mal wirklich ganz groß.
Flächennaturschutz
Ohne Michael Succow wäre das ökologische Erbe der DDR einfach nur eine Katastrophe gewesen. Die Uran-Bergbaugebiete, die Braunkohletagebaue, die verseuchten Böden im Chemiedreieck und die Altlasten der DDR-Industrie sind auch 25 Jahre nach der Einheit nicht vollständig saniert. Aber Michael Succow, dem damals stellvertretenden Umweltminister der DDR und seinen Mitstreitern, verdankt das vereinigte Deutschland der DDR auch den Grundstock für das „Nationale Naturerbe“.
„Mit dem letzten Tagesordnungspunkt der allerletzten Sitzung des DDR-Ministerrates“, so sagte es Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) vor wenigen Tagen bei einem Festakt, hat das letzte Kabinett der DDR am 12. September 1990 als letzte Amtshandlung rund vier Prozent der Landesfläche unter Naturschutz gestellt. Vor fünf Jahren würdigte Hendricks Vorgänger Norbert Röttgen (CDU) diesen Naturschutzputsch als „eine der größten Leistungen des deutschen Naturschutzes in den vergangenen Jahrzehnten“.
Die fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate und drei Naturparks sind der Grundstock für die bundesdeutsche Politik zum Schutz der biologischen Vielfalt geworden. Die Flächen wurden im Einigungsvertrag gesichert und inzwischen um weitere Flächen auch im Westen ergänzt. Erst im Juni hat der Bund eine dritte Tranche von Bundesflächen an die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die Bundesländer und insgesamt 32 Naturschutzverbände übergeben, die die 156 000 Hektar Naturschutzflächen verwalten und pflegen.
Ein Kernbestandteil dieses Nationalen Naturerbes ist das „Grüne Band“, der ehemals fast unüberwindliche Grenzstreifen, der „als lebendiges Denkmal der neueren Zeitgeschichte bewahrt“ werde, wie das Umweltministerium das beschreibt. Seit 2012 mühen sich der Bund und das Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) darum, die Lücken, die in 25 Jahren Einheit dann doch in dieses Grüne Band gerissen worden sind, wieder zu schließen.
Michael Succow ist inzwischen 74 Jahre alt und gehört immer noch zu den renommiertesten Moorforschern in Deutschland – und setzt sich mit seiner eigenen Stiftung noch immer für den Erhalt der Natur ein. Dass der Naturschutz auf Nationalparks beschränkt wird und in der Kulturlandschaft immer weniger Naturschutz möglich ist, ärgert ihn.
Bei einem Kongress über das Nationale Naturerbe sagte Succow, der größte Fehler der deutschen Naturschutzpolitik sei, dass „Kulturlandschaft mit Natur gleichgesetzt wurde und die Dynamik der Natur ignoriert wurde.“ Und er kämpft bis heute dafür, dass es Räume geben muss, in der die Natur sich ungestört entwickeln kann: „Naturschutz braucht eigene Flächen, auf denen jedwede Nutzung absolut unterbleibt!" In wenigen Tagen wird er mit dem Ehrenpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet. Schon 1997 hat ihm die Right Livelihood Foundation den alternativen Nobelpreis verliehen.