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Warten auf ein Wunder. Szene aus Hu Bos vierstündigem Meisterwerk.
© Arsenal Verleih

„An Elephant Sitting Still“ im Kino: Tristesse des modernen Chinas

Ein Meisterwerk des jungen chinesischen Kinos: Hu Bos Regiedebüt „An Elephant Sitting Still“ ist gleichzeitig sein filmisches Vermächtnis.

Es dauert fast vier Stunden, bis in „An Elephant Sitting Still“ für einen Moment der Druck von den Menschen abfällt. Die Szene findet bezeichnenderweise in fast vollkommener Dunkelheit statt, an einer Raststätte, wo der Reisebus, der Bu (Peng Yuchang) und Ling (Wang Yuwen) in eine hoffnungsvollere Zukunft bringen soll, einen Zwischenstopp einlegt. Die beiden Teenager vertreten sich mit ein paar Mitreisenden die Füße und fangen dann an, im Schein der Innenraumbeleuchtung des Busses eine Runde zu kicken.

Der Bildausschnitt, eine der wenigen Totalen im Film, scheint willkürlich gewählt, wie die meisten Einstellungen. Die vier Personen sind an den unteren Rand gedrängt, sodass kaum mehr als ihre Oberkörper zu sehen sind – als sei die Welt aus ihrer Verankerung gehoben. Trotzdem verspürt man als Zuschauer erstmals einen Anflug von Erleichterung, sogar eine gewisse Leichtigkeit. Sie sind fast an ihrem Ziel angelangt: Im Zoo von Manjur soll es einen sagenhaften Elefanten geben, der mit stoischer Gelassenheit die Welt an sich vorüberziehen lässt. Für die Menschen in „An Elephant Sitting Still“ eine Pilgerstätte.

Vier Stunden ist man bis dahin ihren Fluchtbewegungen durch die nordchinesische Provinzstadt Manzhouli gefolgt. Es sind meist zufällige Begegnungen, nie selbstbestimmt und immer unter erhöhten Stressbedingungen: ausgeliefert dem Sozialdruck einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt: ökonomisch, physisch oder schlicht durch schiere Anpassungsfähigkeit an die Ausbeutungsverhältnisse. Im Schutz der Dunkelheit entsteht zum ersten Mal eine Art Gemeinschaftsgefühl.

Der Regisseur beging nach den Dreharbeiten Suizid

Die Reise am Ende von „An Elephant Sitting Still“ steht unter keinem guten Stern. „Du kannst gehen, wohin du willst. Aber es wird dort nicht anders sein“, erklärt der 60-jährige Wang (Liu Congxi) zum Abschied Bu, der wegen eines vermeintlichen Mordes an einem Mitschüler gesucht wird. Sie müsse verstehen, sagt der Konrektor ihrer Schule zur 16-jährigen Ling, mit der er eine Affäre hat, dass das Leben schon immer ungerecht gewesen sei. Zu Hause schreit ihre Mutter: „Ich kann dir nicht geben, was du willst. Ich lebe ja selbst dieses Scheißleben.“ Den Schlüsselsatz aber spricht Li Kai (Zhenghui Ling) aus, der durch den Diebstahl des Handys von Schulhof-Bully Wu eine Kette der Gewalt in Gang setzt. „Die Welt ist einfach schrecklich“, meint er – bevor er sich erschießt.

Es ist unmöglich, „An Elephant Sitting Still“, den Geheimtipp der diesjährigen Berlinale, zu sehen und dabei die tragische Geschichte auszublenden, die seine Produktion umgibt. Der 29-jährige Hu Bo, in China ein gefeierter Romanautor, beging kurz nach Ende der Dreharbeiten Suizid. Sein Regiedebüt ist gleichzeitig ein Vermächtnis. Doch man macht es sich zu leicht, die depressive Grundstimmung des Films lediglich als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu lesen. „An Elephant Sitting Still“ ist ungeachtet der Umstände eines der beeindruckendsten Debüts der vergangenen Jahre: ein Meisterwerk des jungen chinesischen Kinos, von einer seltenen erzählerischen und visuellen Kraft. Seine stille Größe macht den Verlust des Menschen und Regisseurs Hu Bo umso tragischer.

Es klänge daher zynisch, „An Elephant Sitting Still“ schön zu nennen. Doch es zeichnet den Film eine lyrische Expressivität aus, allein schon dank der prächtigen Unschärfen, die deshalb so stimmig sind, weil sie etwas verbergen und gleichzeitig – auf den stark angeschnittenen Gesichtern im Bildvordergrund – viel zu erzählen haben. Oder durch die kompositorische Konzentration der Plansequenzen, die die ruhelosen Figuren in einen innerlichen Fluss versetzen. Geredet wird im Film kaum, die Menschen kommunizieren – beziehungsweise verweigern die Kommunikation – durch Blicke, Gesten und ihre Körperhaltung.

Ende mit einem vagen Hoffnungsschimmer

Vier Handlungsstränge führt Hu Bo im Verlauf eines einzigen Tages zusammen, aber „An Elephant Sitting Still“ hat nicht den Anspruch eines Gesellschaftspanoramas. Er bleibt ausschnitthaft wie die extremen Close-ups auf seine Protagonisten, die keine Repräsentationsfiguren darstellen müssen, obwohl ihre Handlungsunfähigkeit schon auf eine größere gesellschaftliche Krise hindeutet. Sie alle sind Leidtragende, selbst der Westentaschenganove Cheng (Zhang Yu), der den Angriff auf seinen jüngeren Bruder rächen will, den gleichzeitig aber das Gewissen plagt, weil er die Schuld am Freitod seines bestes Freundes trägt.

Vielleicht ist das größte Wunder dieses Films, dass Hu Bo sein Publikum vier Stunden lang in die soziale Kälte und Tristesse des modernen Chinas mit seinen farblosen Hochhaussiedlungen entführt, er es am Ende aber mit einem vagen Hoffnungsschimmer entlässt. In der allerletzten Einstellung trompetet aus dem Off noch einmal der Elefant, als wolle er die Suchenden willkommen heißen. „An Elephant Sitting Still“ wird als Hu Bos Vermächtnis in die Filmgeschichte eingehen. Aber er fühlt sich nicht wie ein definitiver Schlusspunkt an.

OmU in den Kinos fsk und Wolf

Andreas Busche

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