„An Elephant Sitting Still“ im Berlinale-Forum: In der Mitte der Nacht
Ein Meisterstück aus China: Hu Bos Debütfilm „An Elephant Sitting Still“ ist das Vermächtnis des 29-Jährigen, der sich im Oktober das Leben nahm.
Wenn die Kamera ins Haus geht, wird es düster. Sie gewahrt Silhouetten im Halbdunkel, verschattete Gesichter. Ist da ein Mensch? Man ahnt es nur.
Eine Provinzstadt in China, abbruchreife Altbauten, hässliche Neubausilos, erst denkt man, das hat man schon gesehen im Arthouse-Kino: die elende Wahrheit hinter den offiziellen Chinabildern, Müll, Armut, Arbeitslosigkeit, Aggression. Jeder ist sich selbst am nächsten, in der Familie, der Schule, die Älteren hassen die Jüngeren, und die Jüngeren werden zur verratenen Generation. Verlorene Jugend, quer durch alle sozialen Schichten. Aber dann, wenn dieser episodisch sich entfaltende Reigen über einen einzigen Tag im Leben von vier Protagonisten nach 230 Minuten zu Ende geht, wenn die Augen sich an die Finsternis gewöhnt haben und an die verschobenen „falschen“ Bildausschnitte mit an die Ränder gerückten Figuren, scheint doch noch ein Licht auf. Wenn es Hoffnung gibt, dann wider besseres Wissen.
„An Elephant Sitting Still“ ist ein Geniestück. Voller Härte und Poesie, mit einer Kamera, die sich den Figuren an die Fersen heftet, die obsessiv Nähe sucht und Entfremdung ins Bild setzt. Es ist der Debütfilm von Hu Bo, 29, der in China mit Kurzfilmen und als Schriftsteller von sich reden machte und der sich im Oktober das Leben nahm, nach der Fertigstellung des Films.
Die Gewalt kommt mit Distanz ins Bild
Da ist der 60-jährige Herr Wang (Liu Congxi), den seine Familie ins Heim abschieben will und dessen kleiner Hund von einem größeren totgebissen wird. Der 16-jährige Bu (Peng Yuchang) wird von einem Schlägertrupp verfolgt, weil er mit dem Boss der Schulbande aneinandergeriet. Seine Klassenkameradin Ling (Wang Yuwen) leidet unter ihrer lieblosen Mutter und wird vom Co-Rektor hofiert. Der Gangster Cheng (Zhang Yu) sieht zu, wie sein bester Freund vom Balkon in den Tod springt. Die Wege der vier kreuzen sich in diesem Vorhof der Hölle. Und alle haben sie von diesem Zirkuselefanten gehört, der in Manzhouli in der Mongolei einfach nur ungerührt dasitzt, mit buddhistischem Gleichmut. Ein Sehnsuchtsbild.
Die Gewalt kommt mit Distanz ins Bild, als scheue die Kamera vor ihr zurück. Das Vermächtnis eines 29-Jährigen: Hu Bo verwebt Zufallsbegegnungen zu schuldhaften Verstrickungen, er zeigt eine Welt ohne Mitleid und hat Mitleid mit ihr. In der Tiefe der Nacht, im Scheinwerferlicht eines Überlandbusses Richtung Manzhouli.
22. 2., 18.30 Uhr (Delphi)
Christiane Peitz