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Kinder spielen mit einem Roboter auf der Internationalen High-tech-Expo in Peking.
© Jason Lee/Reuters

China: Alltag für Vierjährige: Englisch, Klavier und Schwimmen

Chinas Kinder werden oft verhätschelt. Aber wenn es um Bildung geht, kennen die meisten Eltern keine Gnade - nur der Uni-Besuch garantiert einen gutbezahlten Job.

Keine Hausaufgaben mehr für Grundschulkinder nach 22 Uhr. Das fordert jetzt das chinesische Bildungsministerium. Kinder sollen stattdessen genug schlafen und ausgeruht in die Schule kommen. Dabei geht es nicht nur darum, die Last von den Schultern der Kinder zu nehmen. Auch von den Eltern, die die Hausaufgaben beaufsichtigen, soll der Druck genommen werden.

Aber nicht alle Eltern in China finden die Idee gut. Sie fühlen sich mit der Jianfu-Kampagne – was wörtlich übersetzt „Last-Verringern“ heißt – der chinesischen Regierung im Stich gelassen. Sie wollen nicht, dass der Staat sich zurückzieht. Sie fühlen sich betrogen, denn nun müssen sie sich gänzlich selbst darum kümmern, dass ihre Kinder alle Voraussetzungen mitbringen, um an guten Schulen aufgenommen zu werden. Gerade die Eltern, die zu Chinas Mittelschicht gehören, haben nämlich Angst vor dem sozialen Abstieg und kennen nur einen Ausweg, koste es, was es wolle: Bildung.

Xiao Bei ist noch nicht ganz vier Jahre alt, hat aber bereits ein volles Lernpensum. Obwohl sie von 7.30 bis 17 Uhr in den Kindergarten geht, bringen ihre Eltern sie am Wochenende halbtags zum Englischunterricht. Sie lernt außerdem Klavier, weil es beide Gehirnhälften beanspruchen soll. Und um körperlich fit zu sein, geht sie ein Mal in der Woche zum Schwimmen.

Jeden Tag muss sie zudem unter Aufsicht der Eltern oder Großeltern Mathematik und Englisch sowie eine halbe Stunde Klavier üben. „Spielen und Vorlesen reicht doch nicht, so hinken sie von vornherein schon hinterher“, sagt Xiao Beis Mutter, die in der Nähe von Schanghai an einer Universität unterrichtet und deshalb genau weiß, was die Aufnahmeanforderungen für gute Schulen sind. Dafür investiert sie die Ersparnisse von sich und ihrem Mann. Zudem helfen beide Großelternpaare finanziell mit, denn die Kurse kosten oft umgerechnet 500 Euro pro Semester. Mit Sommercamps zusammen kommt sie im Jahr schnell auf 5000 Euro nur für außerschulische Aktivitäten. Aber sie ist auch überzeugt davon, dass gerade die Kleinsten nicht schon an der Startlinie des Bildungsmarathons zurückfallen dürfen. Und so legt sie wert darauf, dass ihre Tochter durch viel Disziplin und Härte schon im Kindergartenalter Rechentabellen auswendig vortragen, Beethoven spielen oder englische Gedichte vortragen kann.

Zulassungsprüfung für die Uni gilt als weltweit schwierigste

In ihrem Buch „Little Soldiers – Kleine Soldaten“ beschreibt Lenora Chu, eine chinesisch-stämmige Amerikanerin, ihre Erfahrungen mit dem chinesischen Bildungssystem. Sie schildert, unter welchem Druck Kinder Wissen aus allen Bereichen für Prüfungen, gerade auch für die Zulassung (Zhongkao) für das Gymnasium, auswendig lernen. Sie zeigt, wie sich an den Testergebnissen vorausbestimmen lässt, ob das Kind später im Berufsleben ein Arbeiter wird oder eine akademische Laufbahn einschlägt. Die entscheidende Hürde ist dann die Gaokao, die Zulassungsprüfung zu den Universitäten in China. Sie wird als weltweit schwierigste Prüfung dieser Art gesehen.

Jedes Jahr im Juni nehmen über neun Millionen Schüler an der Gaokao-Prüfung landesweit teil. Um eine hohe Punktezahl zu erzielen, bereiten die Schüler sich ein Jahr im Voraus darauf vor, lernen täglich stundenlang Stoff auswendig und gehen zum Nachhilfeunterricht. Mindestens ein Eltern- oder Großelternteil kümmert sich in Vollzeit um das körperliche Wohlbefinden. Sie kochen Mahlzeiten aus Zutaten, die angeblich die Gehirnleistung verbessern. Dazu nehmen sie ihren fast 18- jährigen Kindern jede noch so kleine Tätigkeit ab. Meistens wird das Smartphone eingezogen, damit sich die Jugendlichen voll aufs Lernen konzentrieren können. Wohnungen werden in der Nähe der Schulen angemietet, damit auf dem Schulweg keine Zeit in Staus verloren geht.

Das Ziel ist, ins Berufsbeamtentum aufzusteigen

Ziel ist es, in eine der renommierten Unis in den Großstädten Chinas aufgenommen zu werden. Deren Abschlüsse garantieren einen gut bezahlten Job. Es ist ein in sich geschlossener Wirtschaftskreis: Die Eltern investieren in die Zukunft der Kinder, um auch die eigene Zukunft und den sozialen Status abzusichern. Nicht nur die Angst vor den schwierigen Prüfungen belastet die Schüler, es ist auch die Angst, den Erwartungen der Eltern nicht gerecht zu werden.

Klar ist, dass sich dieses von Angst geprägte System ändern muss. Doch die aus dem alten China mit seinen Bildungsschranken stammende Idee, dass nur derjenige ausgesorgt hat, der ins Berufsbeamtentum aufsteigt, ist fest in den Köpfen der Älteren verankert. „Die Reformen in Chinas Bildungsbereich beruhen darauf, dass im 21. Jahrhundert soziale Kompetenz eine wichtigere Rolle im Arbeitsleben spielen wird. Allein über Büchern für Prüfungen zu sitzen und anspruchsvolle Mathematikaufgaben zu lösen, wird nicht mehr reichen, das hat auch Peking erkannt", schreibt Lenora Chu.

Doch die Vorstellung, dass man sich die Privilegien in Zukunft weder erarbeiten, noch durch Nachhilfestunden und Teilnahmen an Mathematikweltmeisterschaften oder Debattierkreisen erkaufen kann, erzeugt bei vielen Eltern Stress. Denn es bedeutet, dass ihnen Gestaltungsspielraum für die Zukunft ihrer Kinder genommen wird, wenn sie künftig keine Bonuspunkte mehr durch solche Qualifikationen für die Gaokao-Prüfung erwerben können.

Ning Wang

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