Ein Frühling, der ewig bleibt: Thomas Mann, Corona und die totale Gegenwart
Gibt es jetzt mehr Zeit als früher? Ist Zeit noch knapper geworden? Wie sich in diesen Corona-Krisentagen unser Verhältnis zur Gegenwart verändert.
Als Thomas Mann 1924 seinen „Zauberberg“ beendet hatte, stellte er diesem vor der Veröffentlichung ein paar Bemerkungen voran. Die Geschichte, die er erzähle, so Mann, sei lange, lange her und unbedingt in der Zeitform „der tiefsten Vergangenheit“ vorzutragen, jedoch verdanke sie „den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit“.
Damit spielte Mann auf den Ersten Weltkrieg an, darauf, dass die Geschichte von Hans Castorp sich kurz davor zugetragen habe – eben in den späten Nuller- und frühen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts – und sie gerade deswegen umso vergangener, weiter entfernt wirke. Die Welt geriet aus den Fugen, sie wurde danach eine andere.
Auch von der „Fragwürdigkeit“ und „eigentümlichen Zwienatur“ der Zeit spricht Mann in der Vorbemerkung. Das passt zum verwirrenden Zeiterleben in diesen Corona-Krisentagen.
Das Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gestaltet sich plötzlich für viele Menschen ganz neu, genau wie das Verhältnis der Zeitformen untereinander. Man könnte sagen, dass uns vor ein, zwei Monaten noch viel mit Manns „Zauberberg“-Helden“ verbunden hat, mit dem naiven, einfach gestrickten, gutgläubigen Hans Castorp zu Beginn des Romans.
"Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen"
Dieser macht sich auf den Weg von Hamburg in die Schweiz, er will in Davos seinen Vetter Joachim im Sanatorium besuchen. Als der ihn am Bahnhof abholt, sagt Hans, dass sie nach den drei Wochen seines Aufenthalts doch gemeinsam nach Hause zurückkehren könnten, was seinen lungenkranken Vetter sehr verblüfft.
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Er solle erstmal ankommen, er werde im Sanatorium viel Neues erleben, mit einem halben Jahr müsse man bei ihm, Joachim, mindestens noch rechnen. Hans will das nicht glauben. „Bist du toll?“ ruft er. Oder: „Man hat doch nicht so viel Zeit!“ Joachim aber erwidert ruhig und abgeklärt: „Ja, Zeit. Die springen hier um mit der menschlichen Zeit, das glaubst du gar nicht. Drei Wochen sind wie ein Tag vor ihnen. Du wirst schon sehen. Du wirst das alles noch lernen.“ Und er fügt an: „Man ändert hier seine Begriffe.“
Das tut Hans Castorp schließlich, sieben Jahre lang. Und auch wir tun das gerade, „in den Zeiten von Corona“, wie es jetzt immer so geläufig heißt.
Diese Zeiten, die, in denen das Coronavirus ganz nahe gekommen ist, sind erst ein paar Wochen alt, sie haben alles verändert. Die Zeit, so scheint es, besteht aus nichts anderem als Gegenwart; einer Gegenwart, die das erst kürzlich Vergangene ewig lang her erscheinen lässt und keine Blicke in die Zukunft, geschweige denn eine coronavirusfreie zulässt.
Es fällt schwer, sich zu erinnern, wie das beispielsweise mit dem Reisen war kurz vor dem Coronavirus-Ausbruch. Schnell hierhin, schnell dorthin mit dem Flieger, ein Wochenende Venedig oder Paris, so klimaschädlich das war. Ein paar Tage an der Ost- oder Nordsee, mit dem Auto oder dem Zug? Hat es das wirklich gegeben?
Zu viel Wirklichkeit, zu viel Surreales
Nicht anders ist das beispielsweise mit dem Lesen von aktuellen Büchern, mit Gegenwartsliteratur. Unweigerlich stößt man darin auf Dinge, die abrupt nicht mehr möglich sind, die aus einer anderen Zeit stammen müssen. Es wirkt, als seien Bücher aus vergangenen Jahrhunderten auf einmal zeitgemäßer. Sie rücken viel näher an unsere Gegenwart heran, und nicht nur solche, die sich mit der Pest oder der Cholera beschäftigen.
Auf der anderen Seite haben wir es gerade mit einer totalen Zukunftslosigkeit zu tun. Dass die Zukunft ungewiss ist, klar, war immer so, ein Allgemeinplatz. Aber die nahe Zukunft, die kommenden Wochen und Monate? Die ließen sich vor Corona vorab strukturieren, planen, darauf konnte man hinleben, da gab es eine Zielgerichtetheit.
Aber nun: Gibt es die Möglichkeit eines Sommerurlaubs außerhalb der eigenen vier Wände? Nimmt man das Angebot in Anspruch, die von den Fluggesellschaften stornierten Flüge in den Herbst umzubuchen? Fragen, die nicht zu beantworten sind.
Stattdessen eine Gegenwart, die ausschließlich von Corona bestimmt wird; die sich in die Breite zieht, der gar nichts Flüchtiges innewohnt. Zu viel Wirklichkeit, zu viel Surreales. Ein Tag gleicht dem anderen. Einerseits droht die Zeit zu erstarren, andererseits fällt man geradezu aus ihr heraus.
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Wegen der Quarantänebestimmungen, den Kontaktverboten, der Isolation, auch wegen mangelnder Zerstreuungsmöglichkeiten außer Haus ist nun allenthalben die Rede davon, wieder mehr Zeit zu haben: Zeit zu sehen, zu hören, zu lesen. Ja, überhaupt könne man die Zeit als solche wieder spüren, die vermeintliche Entschleunigung macht es möglich. Noch vor ein paar Wochen verging sie wie im Flug. Zeit war knapp, musste eingeteilt, gemanagt, organisiert werden.
Jetzt scheint sie in Unmengen vorhanden zu sein. Womöglich wird sie wirklich als Langeweile erfahren – negativ, in Anlehnung an Kierkegaard, als eine Macht, „die den Menschen vor das Nichts rückt“, als Ausdruck „eines negativ gewordenen Gottesverhältnisses.“
Ist da jetzt ein "Meer an Zeit"
Oder positiv im Sinn eines metaphysischen Zustandes, als Gelegenheit zu Kontemplation, Muße, einem Zu-Sich-Selbstfinden. Ja, gar als ästhetische Erfahrung, wie es Hugo von Hofmannsthal 1907 in seinem Vortrag „Der Dichter und diese Zeit“ formulierte: „Für einen bezauberten Augenblick ist ihm alles gleich nah, alles gleich fern; denn er fühlt zu allem einen Bezug. Er hat nichts an der Vergangenheit verloren, nichts hat ihm die Zukunft zu bringen. Er ist für einen bezauberten Augenblick der Überwinder der Zeit“.
Doch ist dem wirklich so? Haben wir plötzlich mehr Zeit, „ein Meer an Zeit“, wie es einmal der niederländische Schriftsteller A.F.Th van der Heijden formuliert hat? Können wir uns auf die Suche nach der verlorenen Zeit machen, ihr Wesen von Grund auf erkunden, wie es das Marcel Proust in seinem korkgetäfelten Schlaf- und Schreibzimmer machte?
Die Organisation von Heimbüros ist anstrengend genug, golden ist das digitale Zeitalter nicht. Es stottert eher. Nicht zu vergessen die Betreuung des Nachwuchses. Umsichtiges Zeitmanagement scheint mehr denn je das Gebot der Stunde, der richtige Umgang mit der knappen Ressource Zeit. Und das gilt für die Privilegierten, diejenigen, die nicht auf Kurzarbeit gesetzt werden oder gleich ihre Jobs verloren haben.
Das Virus, auch wenn es den Anschein hat, ist nicht egalitär. Die weniger Privilegierten sind dabei, sich neu zu organisieren, Rettungskampagnen zu starten, an die finanziellen Milliardenhilfen der Bundesregierung zu kommen. Zu schweigen von dem psychischen Stress, den das verursacht – die Zeit wirkt da gerade wie ein Ungeheuer.
Der Horror Vacui, er lauert in den eigenen vier Wänden. So viel Muße, so viele ästhetische Verfeinerungen müssen dann doch nicht sein. Die digitalen Versuche, das genuin analoge Leben zu kopieren, sprechen ihre eigene Sprache: Clubabende im Netz, gemeinsames Weintrinken per Skype etc.
"Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm"
Am seltsamsten an diesem Gegenwartsüberfluss aber ist: Man befindet sich in einer Art Wartehalle. Und wartet darauf, dass es besser wird, die Pandemie bald vorübergeht. Was, wie man von den Virologen hört, auch ein Jahr dauern könnte, genau wie die Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung und zum Retten vieler Menschenleben getroffen worden sind.
„Seid ihr toll?“, könnte man jetzt wieder mit Hans Castrop fragen. Haben wir so viel Zeit? So gehen schon jetzt, nach knapp einer Woche, in der das ganze Land eine Ausgangssperre verordnet bekommen hat, (auch wenn die nicht so heißt), die Diskussionen los, wie lange das alles so gehen kann, ob die Maßnahmen nicht wieder gelockert werden müssten.
[Das Coronavirus in Deutschland: Alle Zahlen finden Sie hier im Überblick.]
Man wartet auch darauf, Tag für Tag, dass es nun richtig passiert – obwohl schon so viel passiert ist und die Zahlen der Infizierten und Toten täglich steigen: „Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm, kann man nicht genau vorhersagen, was noch kommt“, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Donnerstag gesagt.
Und Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut: „Bisher kann noch keine Aussage gemacht werden, ob sich das Wachstum abschwächt“.
So dürfte es vorerst weitergehen. So wie auch die Debatten darüber, ob die Welt nach Überwindung der Pandemie nicht nur in die schlimmste wirtschaftliche Krise aller Zeiten gerät, sondern überhaupt eine völlig andere sein wird. Thomas Mann hat es offen gelassen, was Hans Castorp nach seinen sieben Jahren in Davos im Ersten Weltkrieg widerfährt, „wir möchten nicht hoch wetten, dass du davonkommst.“ Immerhin fragt er am „Zauberberg“-Ende, durchaus voller Hoffnung: „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Feuersbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“
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