Neues von Marcel Proust: Entdeckungen, Tage, Freuden
In Paris sind bislang unbekannte Novellen und Skizzen von Marcel Proust aufgetaucht. Im Herbst erscheinen sie als Buch.
Es gibt mal wieder eine literarische Sensation zu vermelden, eine das Werk des französischen Jahrhundertschriftstellers Marcel Proust betreffende: Anfang Oktober erscheint in Frankreich in dem kleinen Verlag Éditions de Fallois ein Buch mit bislang unbekannten, unveröffentlichten Arbeiten von Proust, mit Erzählungen, Novellen und Skizzen. Es trägt den kryptisch-naheliegenden Titel „Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites“. Der Verlag gehört dem im Januar des vergangenen Jahres verstorbenen Proust-Kenner Bernard de Fallois. Dieser veröffentlichte nicht nur in den fünfziger Jahren das Romanfragment "Jean Santeuil" und den Essay "Contre Saint-Beuve", sondern war anscheinend auch im Besitz dieser unveröffentlichte Proust-Prosa; Prosa, über die de Fallois auch in seiner Doktorarbeit geschrieben hatte, unter anderem in dem vor kurzem veröffentlichten Abschnitt "Proust avant Proust".
Ob Proust jetzt neu gelesen werden muss?
Proust, 1871 geboren, hat diese Prosaarbeiten in jungen Jahren verfasst, in den frühen Neunzigern des 19. Jahrhunderts, zusammen mit denen seines ersten, 1896 veröffentlichten und mit einem Vorwort von Anatole France versehenen Buches „Tage und Freuden“. Warum sie dort keinen Einlass fanden, darüber gibt es nur Spekulationen. Sie seien Proust womöglich zu provokant, zu unmoralisch erschienen, so der Herausgeber des Bandes Luc Fraisse auf der Édition-de-Fallois-Verlagsseite. Vielleicht hätten sie aber auch grundsätzlich nicht in die Komposition von „Tage und Freuden“ gepasst.
Ob Proust jetzt neu gelesen werden muss? Sicher nicht. Die unbekannten Arbeiten sollen Vorstudien zu Motiven der „Recherche“ sein, über Liebe, Sex und Homosexualität, ebenso wie es in „Tage der Freuden“ Überlegungen zum „Ende der Eifersucht“, den „Gestaden des Vergessens“ oder frühe Meeresbilder gibt. Oder frühe Entwürfe zu den Porträts der Herzogin und der Fürstin von Guermantes in der "Welt der Guermantes", dem dritten Band der "Recherche", und auch erste Genrebilder als Vorstufen für die Kasernen-Doncìeres-Episode in die "Welt der Guermantes". Überhaupt dieser dritte Band der "Recherche": Immer wieder kommt der Erzähler hier darauf zurück, dass er jetzt endlich mal anfangen müsse, literarisch tätig zu werden, er sein Werk beginnen müsse. Datiert man die Ereignisse in diesem Band auf die Jahre 1897 und 1898, dann war Proust hier schon recht fleißig gewesen, sein Buch "Freunden und Tage" lange erschienen.
Mit 800 Briefen im Rückstand
Nun ist es so, dass es mit den Entdeckungen bei Proust in Zukunft kein Ende nehmen dürfte. Das „Sensationelle“ ist so sensationell auch wieder nicht: Erst vor anderthalb Jahren tauchte in Paris ein dritter Fragebogen auf (einer von denen, die Proust angeblich nur zweimal ausgefüllt hat): ein achtseitiges Heft mit dem Titel „Meine Geständnisse“, darin dreißig Fragen, die der nicht mehr so ganz kleine Marcel sich im Alter von 16 Jahren stellte und handschriftlich beantwortete. Und dann sind da noch die vielen Briefe: Proust war ein besessener Briefschreiber. Sein amerikanischer Herausgeber Philip Kolb, der 1992 verstarb und eine 21-bändige Edition mit 4500 Briefen des Schriftstellers verantwortete, hat einmal gesagt, er habe überhaupt nur ein Zwanzigstel des regen Briefverkehrs von Proust zu sehen bekommen. Und kurz nach dem er 1919 für „A l’ombre des jeunes filles en fleur“ den Prix Goncourt bekommen hatte, schrieb Proust vielsagend, er sei „mit 800 Briefen“ im Rückstand.
Vielleicht werden dann so eines Tages auch Korrespondenzen des noch jungen Proust aus den mittleren 1890ern entdeckt, und vielleicht finden sich darin sogar Erklärungen dafür, warum er einige der jetzt entdeckten Prosaarbeiten nicht mit in „Tage und Freuden“ aufgenommen hat.
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