zum Hauptinhalt
"Die Czardas-Tänzer" von Ernst Ludwig Kirchner.
© Wikimedia

Florian Illies schreibt wieder über 1913: Liebe, Moderne und der Krieg

Als die beliebteste Zigarettenmarke „Moslem“ hieß: Florian Illies muss noch was erzählen und hat ein zweites Buch über das „unglaubliche“ Jahr 1913 geschrieben.

Richard Dehmel war einer der bekanntesten Lyriker in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, verehrt auch von Kollegen wie Thomas Mann oder Hermann Hesse. „Schöne wilde Welt“ heißt ein Band mit neuen Gedichten und auch „Sprüchen“, der 1913 von ihm erschien; ein Titel, den wiederum Florian Illies in seinem gerade veröffentlichten zweiten Band über 1913 für „perfekt“ hält, um eben jenes Jahr mit einer Überschrift zu versehen.

Trotzdem hat Illies sich irritierenderweise für einen anderen Untertitel entschieden: „Was ich unbedingt noch erzählen wollte“. Damit schiebt er sich selbst als Autor, Collagist und Arrangeur der vielen Geschichten und Biografieschnipsel „dieses unglaublichen Jahres“ zunächst sehr in den Vordergrund. Man fragt sich: Soll das eine Erklärung sein für dieses Sequel seines vor sechs Jahren erschienenen Bestsellers „1913“ mit dem viel treffenderen Untertitel „Der Sommer des Jahrhunderts“? Will Illies Vorwürfen begegnen, einfach nur ein zweites Mal eine Erfolgsformel angewendet zu haben? So wie er das ja auch bei seinem Buch „Generation Golf“ gemacht hat, als er drei Jahre später ein zweites Golf-Modell vom Erzählband ließ.

So viel Spaß muss sein

Wer sein Buch liest, merkt jedoch schnell, dass Illies formal sein Ego einigermaßen zu zügeln weiß. Zwei-, dreimal sagt er ich, auch seine Leser und Leserinnen spricht er hie und da an („ja, wirklich, Sie können es mir glauben“), und ein Nick Cave findet ebenfalls Einlass mit einem Zitat, so viel Spaß muss sein.

Ansonsten macht er dasselbe wie in dem ersten 1913er-Buch. Er versucht sich an den Simultanitäten jenes politisch, gesellschaftlich und kulturell so bedeutenden Jahres, an einer Synchronisation der Ereignisse in Form einer losen Erzählung, an einer Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten, all das mit kurzen Einträgen, vielen Schauplatzwechseln und riesigem Personal, in das sich Illies mitunter fiktiv einfühlt. Dabei geht es ihm nicht um historische Analysen, sondern viel mehr um eine anregende kulturelle Unterhaltung, weniger um die Tagespolitik jener Zeit, sondern mehr um die moderne und auch nicht mehr ganz so moderne Kunst in all ihren Spielarten, um deren Produzenten und Produzentinnen mit ihren Beziehungen, Liebeleien und Wehwehchen.

Also imaginiert sich Illies in den Alltag von Gerhart Hauptmann, der ein Jahr zuvor den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hatte und fragt: „Wie nur soll man auf der schnöden Erde weiterleben, wenn man gerade in den Olymp aufgenommen wurde?“ Ja, wie bloß? Hauptmann begibt sich mit seiner Ehefrau nach Portofino, um zu überwintern, er schreibt „ein deutsches Urdrama“, „ein Festspiel in deutschen Reimen“ für die Hundertjahrfeier der Befreiungskriege in Breslau. Und abends, weiß Illies, kocht ihm seine Frau „Pasta mit Pilzen und Wildschweinbraten an Maronen, selbst beim Meditieren morgens packen ihn manchmal die Gedanken ans Abendessen, er kann es nicht ändern.“

In diesem Stil geht es weiter. In schnellen Schnitten folgt zum Beispiel auf Wassily Kandinsky, der Besuch von seiner Mutter bekommt, Enrico Caruso, „die Stimme des Jahrhunderts“, der „sehr, sehr dick geworden“ ist, „seit seine Frau Ada mit dem Chauffeur durchgebrannt war“, und auf Caruso wiederum „einer der gestörtesten Geister des Jahres 1913“, der Giftmörder Karl Hopf. Und nach Rainer Maria Rilke, dem es „natürlich auch heute nicht gut“ geht, kommt sogleich die Tänzerin Isadora Duncan, deren beiden Kinder tödlich verunglücken: „An diesem Tag versank Isadora Duncans Leben für immer in Tränen.“

Im Fall von Proust scheint Illies etwas gutmachen zu wollen

"Die Czardas-Tänzer" von Ernst Ludwig Kirchner.
"Die Czardas-Tänzer" von Ernst Ludwig Kirchner.
© Wikimedia

Was Florian Illies hier erzählt, ist größtenteils in einem schön flauschigen Plauderton gehalten. Manchmal hat seine Prosa eine federnde Leichtigkeit, manchmal wirkt es etwas bemüht locker. Wenn er etwa in die zweite Person Plural wechselt, er sein Personal altväterlich in den Arm nimmt („Unsere schöne geheimnisvolle russische Fürstin Schakowskoy“) oder betont smarte Übergänge herstellt, von „Wir schalten jetzt einmal kurz nach Wien“ bis hin zu der Verbindung des Staubsaugers mit dem Modellnamen „Dandy“ zu dem italienischen Dandy und Schriftsteller Gabriele D’ Annunzio.

Auf manche Figuren seines Personals kommt Illies häufiger zurück. Zum Beispiel auf die entscheidenden Beteiligten der skandalösen „Le sacre du Printemps“-Aufführung am 29. Mai 1913 in Paris, den Komponisten Igor Strawinsky, den Tänzer Waslaw Nijinsky, seine spätere Ehefrau, die ungarische Tänzerin Romola de Pulsky und Nijinskys vorherigen Liebhaber Sergej Djagilew; auf Kirchner und die Maler der „Brücke“; oder auf Marcel Proust, der es in diesem Jahr doch noch schafft, den ersten Band seiner „Recherche“ zu veröffentlichen, „Eine Liebe von Swann“, zum Teil auf eigene Kosten.

Im Fall von Proust hat man den Eindruck, als wolle Illies hier etwas gutmachen und ein paar Fehler aus dem ersten 1913er-Band ausbügeln. Die Veröffentlichung von „Eine Liebe von Swann“ legte er seinerzeit auf den 13. November statt 14. November (beide Daten kommen im Übrigen jetzt wieder vor, der 14. im Text, der 13. im Bild); oder er nannte einen der Verlage, die Prousts Werk zunächst ablehnten, Oldenbourg statt Ollendorff.

Das Nervöse, Überreizte, Unberechenbare

Klar, Illies erzählt von dem komplizierten Entstehungsprozess’ der „Recherche“. Doch nicht weniger wichtig ist ihm Prousts Liebesleben. Dessen Beziehung zu Alfred Agostinelli, in den Proust sich verliebt hat, obwohl dieser verheiratet ist und den er zu seinem Sekretär und Chauffeur macht. Vor der Kunst kommt in „1913“ zumeist die Liebe. Danach dann aber auch hin und wieder das Nervöse, Überreizte, Neue, Unberechenbare dieses Jahres, dieses beginnenden Jahrhunderts. Dabei versucht Illies auch immer wieder, Bögen in die Gegenwart zu schlagen.

Wer die verstehen will, kann hier die Geschichte eben jener Fürstin Eugénie Schakowsky nachlesen, die „zu den schönsten und wildesten Frauenfiguren dieses an schönen und wilden Frauen so reichen Jahres 1913 gehört“, kann lesen, wie Coco Chanel sagte, dass sie „dem Körper der Frau seine Freiheit wiedergegeben“ habe, kann gar erahnen, dass die freie Liebe keine Erfindung der 68er war, die sexuelle Revolution womöglich doch schon weit über 50 Jahre vorher ihren Anfang genommen hatte.

Nicht zu vergessen die Raucherei, die Zigarettenmarken: Das Logo für Camel beruht auf einem Zirkusbesuch des Designers mit seinen Kindern, von Illies launig kommentiert mit den Worten: „Der geheime Beitrag der Elternzeit zur globalen Designgeschichte, Teil 1“. Und die meistverkaufte Zigarettenmarke in Deutschland war 1913 eine mit dem Namen „Moslem“, von Illies nicht weniger launig eingeführt mit dem Satz, dass der Islam eben doch zu Deutschland gehöre.

Ja, und wie das bei Fortsetzungen so ist, kann Florian Illies natürlich nicht von seinen Lieblingen lassen. Von dem bekannten Personal aus dem ersten Band von Kafka und Felice Bauer über Lasker-Schüler bis Rilke sowieso nicht. Aber auch nicht von manchen der alten Episoden, die er wörtlich manchmal nur leicht verändert hat. Die Möglichkeit einer Begegnung der zur selben Zeit in Wien weilenden Hitler und Stalin im Park von Schloss Schönbrunn taucht hier zum Beispiel ebenso auf wie die letzte tatsächliche Begegnung von Freud und Jung. Und natürlich darf auch Kafkas Bonmot „Im Kino gewesen. Geweint“ nicht fehlen.

Nicht jeder Leser, jede Leserin hat ein Archiv, das weiß der gelernte Journalist und Feuilletonist und zukünftige Rowohlt-Verleger Illies nur zu gut, und so lässt man sich dann von ihm vergnügt und auf schön funkelnden Oberflächen durch dieses bewegte Jahr führen. Florian Illies hat auch ein zweites Mal schöner über 1913 geschrieben, als es vermutlich wirklich war.

Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 304 Seiten, 20 €.

Gerrit Bartels

Zur Startseite