Nachruf: Peter Kurzeck gestorben: Erzählen, um die Zeit anzuhalten
Die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist: Zum Tod des Schriftstellers und Erinnerungskünstlers Peter Kurzeck.
Als Dienstagfrüh die Nachricht vom Tod des Schriftstellers Peter Kurzeck kam, stellte sich sofort eine sehr große Traurigkeit ein – zumal wenn man einmal in den Genuss gekommen war, mit ihm persönlich die Stätten seiner Kindheit und Jugend abzulaufen, die oberhessischen, unweit von Gießen gelegenen Orte Staufenberg und Lollar.
Was man sich aber auch sogleich fragte: War es vielleicht zuviel, was der kleine, schmächtige, stets leicht schief gebeugte, aber agil wirkende Mann sich gerade in den letzten Jahren aufgeladen hatte? Mit seinem Schreiben, insbesondere dem Vorhaben, „die ganze Gegend, die Zeit“ zu erzählen? „Wie soll man das alles aufschreiben? Alles gleichzeitig?“, diese Frage hat er sich selbst fast etwas verzweifelt in seinem 2011 veröffentlichten tausendseitigen Erinnerungsepos „Vorabend“ gestellt. Oder: „Geht das: So erzählen, dass die Zeit stehen bleibt?“
Peter Kurzeck, der 1943 im böhmischen Tachau geboren wurde und als dreijähriges Flüchtlingskind ins hessische Staufenberg kam, wollte mit und in seinen Büchern „alles sehen und für immer behalten“. Unentwegt musste er „die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist.“ Weshalb sein autobiografisch-poetisches, 1997 mit dem Roman „Übers Eis“ begonnene Projekt „Das alte Jahrhundert“ auf nicht weniger als zwölf Bände angelegt war, von denen bislang mit „Vorabend“ als jüngstem Buch gerade fünf erschienen sind. Diese aber verschaffen nicht nur Einblicke in das Leben von Kurzeck, erzählen nicht nur von Kindheit und Jugend, seinem Alkoholismus und dessen Überwindung Ende der Siebziger, seiner Schriftstellerwerdung in Gießen und Frankfurt am Main, von Tochter Carina, ersten Büchern und ewigem Geldmangel, sondern sind auch eine beeindruckend präzise Chronik der Bundesrepublik von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren.
Vergleiche mit Proust und van der Heijden, aber kein Büchner-Preis
Für Kurzeck bedeutete Schreiben sich zu erinnern und die Zeit aufzuheben, die Wirklichkeit literarisch nachzubilden und selbst die scheinbar unbedeutendsten Augenblicke und Lebensäußerungen vor dem Verschwinden zu bewahren. Mit Proust ist er deshalb oft verglichen worden. Mehr noch gemahnt „Das alte Jahrhundert“ und Kurzecks Art des Erzählens in die Breite an die „Zahnlose Zeit“ des niederländischen Schriftstellers A.F. Th. van der Heijden. Um das ständige Zucken und Zerren der Zeit aushalten, ihr ständiges Vor und Zurück besser darstellen zu können, arbeitete Kurzeck mit repetetiven Mustern – mit Wiederholungen, mit Aufzählungen, mit kurzen, oft auf Verben verzichtenden Sätzen.
Kaum ein deutschsprachiger Autor hat so einen erkennbaren Stil, so einen unnachahmlichen Sound. Kurzecks Bücher sind tatsächlich auch so etwas wie Musik. Nicht viel anders verhält es sich mit seinen Hörbüchern, die tatsächlich eigenständige Bücher sind, geprägt von Kurzecks singender Erzählstimme, der man das Hessische genauso anhört wie mittels der vielen rollenden Rs die böhmische Herkunft: „Ein Sommer, der bleibt“, erschienen 2008, ist vielleicht sein schönstes Buch. Zuletzt erschien 2012 „Unerwartet Marseille“, wo Kurzeck von seiner Zeit in den sechziger Jahren erzählt.
Wer einmal ein Kurzeck-Buch gelesen oder gehört hat, kann süchtig danach werden, und tatsächlich wurde sein Publikum in den vergangenen Jahren stetig größer; „Vorabend“ wurde 2011 gar für den Deutschen Buchpreis nominiert. Trotzdem und trotz einiger Literaturpreise war bei Kurzeck oft eine gewisse Verbitterung darüber zu spüren, nicht die Anerkennung zu bekommen, die ihm nicht nur seiner Ansicht nach gebührte, nicht zuletzt, weil in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren immer wieder Stimmen laut wurden, dass ihm nun doch endlich einmal der Georg-Büchner-Preis verliehen werden solle.
Doch was blieb ihm anderes über, als immer weiter zu machen, immer weiter zu erzählen, sich immer weiter zu erinnern? „Schreib weiter!“, „Schreib schneller!“, trieb er sich an. „Nur weiter. Sowieso keine Wahl.“ Der Tod, von dem übrigens in Kurzecks Büchern wenig die Rede ist, so sehr war er mit Kindheits- und Zeitwiedererweckungen beschäftigt, hat dem nun in Form mehrerer Schlaganfälle ein Ende gesetzt.
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