Gastbeitrag zur #MeToo-Debatte: Genie und Chauvinismus
Sexuelle Übergriffe hinter den Kulissen: Es kann keine Sonderrechte für Künstler geben. Das Plädoyer einer Politikerin.
MeToo – das kann leider auch ich diesem Artikel voranstellen. Und weil dieses Thema aufgrund von persönlichen Erfahrungen so emotionalisiert, ist die Debatte darüber auch sehr leidenschaftlich und verläuft manchmal auf einem schwierigen Grat zwischen Verteufelung und Marginalisierung, zwischen Anprangerung und Herunterspielen von traumatischen Erfahrungen. Wir alle haben unterschiedliche Perspektiven auf dieses Thema und sollten daher sachlich argumentieren.
Nun ist schon viel gesagt oder geschrieben worden, aber ein Aspekt ist mir deutlich zu kurz gekommen. Neulich hörte ich ein Gespräch im Radio, in dem die These vertreten wurde, dass die Kunst- und Kulturszene wild sei und es doch normal sei, was da so laufe. Mir ist dabei die Kaffeetasse aus der Hand gefallen. Nein, wir sollten ganz sicher nicht im Namen der Kunst alles verzeihen! Vielleicht sollten wir uns nach den ersten Vergewaltigungs- und Nötigungsanschuldigungen gegen Künstler aus der deutschen Film- und Fernsehszene von ein paar tief eingebrannten Vorstellungen verabschieden, um zu einer Kultur der Aufarbeitung zu kommen.
Während nach der Aufschrei-Debatte von 2013 klar ist, dass unerwünschte sexuell anzügliche Kommentare im professionellen Umfeld heute nicht mehr als „Kavaliersdelikt“ durchgehen, gilt in der Kunstszene offenbar immer noch das Narrativ des „wilden Künstlers“, mit dem sexuelle Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch verziehen werden. Es mag sein, dass die Diskussion an mancher Stelle etwas übers Ziel hinausschießt, dennoch bin ich froh, dass sie endlich geführt wird.
Verrückte Künstler hin oder her - Straftat bleibt Straftat
Natürlich lebt die Kunst vom inszenierten Tabubruch. Wie viele Kunstwerke würden heute nicht existieren, wenn nicht ein verrückter Künstler oder eine Künstlerin auf alle Konventionen gepfiffen und einen völlig neuen Weg beschritten hätte? Aber die körperliche und seelische Unversehrtheit von anderen ist dabei niemals zu gefährden. Straftat ist und bleibt Straftat. Über das Dazwischen, wie beispielsweise einen viel zu lange salonfähigen Chauvinismus, müssen wir dringend reden.
Wir brauchen Strukturen, die Machtmissbrauch und Übergriffe verhindern oder zumindest erschweren. Die Film- und Theaterbranche ist hier noch mal angreifbarer als andere: Sie ist stärker von Stars geprägt, Menschen, denen grenzenlose Bewunderung entgegengebracht wird und die sich daher vermeintlich alles erlauben können.
Es ist eine physische Branche, es geht um Emotionen, Körper, Betrachtetwerden, sexuelle Spannung. Wichtige Kulturereignisse wie die Berlinale leben vom Schaulaufen und vom Glamour. Empfänge sind zentral für Vernetzung und Vermarktung und die Medienbranche bedient Gossip und die Beurteilung von Körpern. Und all das soll ja auch nicht in seinen Grundfesten zerstört werden. Es sind der Chauvinismus und der Sexismus in der Branche, die wir bekämpfen müssen. Es sind die Strukturen, die dazu führen, dass Männer Machtpositionen ausnutzen können. Dazu gehört auch der Missstand, dass die Führungspositionen in der Kulturszene eben immer noch vorrangig von Männern besetzt sind.
Es ist kein Generationenkonflikt zwischen Feministinnen
Es ist wichtig, deutlich zu machen, worum es geht und worum es nicht geht. Denn weder fordern die Aktivistinnen der MeToo-Bewegung das Ende der Erotik noch handelt es sich hier um einen Generationenkonflikt zwischen alten und jungen Feministinnen, wie manche den Brief der französischen Künstlerinnen unter Führung von Catherine Deneuve ausgelegt haben.
Vielmehr scheint eine Grenze zwischen denen zu verlaufen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, und denen, die davon verschont wurden. Ich schreibe das als eine erwachsene Frau, die als 14-Jährige von ihrem Cellolehrer bedrängt wurde. Noch heute überkommt mich der Ekel, wenn ich daran denke, und die Wut, wenn ich mich daran erinnere, wie mir nicht geglaubt wurde, denn „ein klassischer Musiker“ würde so etwas ja nie tun.
Das ist eine wichtige Debatte, die geführt werden sollte: Wir müssen den Betroffenen öfter Glauben schenken. Gleichzeitig müssen wir Raum für subjektives Empfinden zulassen: Was eine Person als Übergriff wahrnimmt, empfindet eine andere als unproblematisch.
Machtgefälle müssen stärker berücksichtigt werden
Die Lösung kann nicht sein, zu sagen, dass kein Problem besteht, solange wir nur eine einzige Person finden, die sich „von so etwas nicht belästigt fühlt“. Stattdessen sollten wir stärker den Fokus darauf legen, dass für sexuelle Handlungen ein Einverständnis vorausgesetzt sein muss und dass wir Machtgefälle in solchen Situationen stärker berücksichtigen. Komplimente und Flirts sollen nichts von ihrer Leichtigkeit verlieren, aber ein Machtmissbrauch darf sich nicht länger als Flirt und harmloses Kompliment tarnen. Unser Blick muss mehr erfassen als eindeutig übergriffiges Verhalten, wir sollten auch problematische Verhaltensweisen hinterfragen, die bisher als normal galten.
Ich möchte, dass sich in unserer Gesellschaft etwas zum Besseren ändert. Ich wünsche mir, dass ein Umdenken einsetzt, dass die Generation meiner Töchter weniger Chauvinismus und übergriffiges Verhalten erleben muss und besser unterstützt wird, wenn sie sich gegen Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch zu wehren versucht. Deswegen begrüße ich auch den Vorstoß des Bundesverbands Schauspiel, eine Beschwerdestelle für Betroffene und einen Verhaltenskodex für die Branche einzurichten.
Ich behaupte: Man kann ein genialer oder verrückter Künstler sein und trotzdem die körperliche Souveränität der Kolleginnen oder Kollegen respektieren. Ob man ein wilder Typ ist, der bei der Probe rumschreit, unkonventionelle Filme dreht oder mit allen weiblichen Fans ins Bett geht, spielt keine Rolle. Aber sobald eine Frau „Nein“ sagt, muss auch ein wahnsinniges Genie dies respektieren.
Tabea Rößner ist Mitglied der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen.
Tabea Rößner