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Märtyrer. Angehörige der entführten und später enthaupteten koptischen Arbeiter vor dem UN-Büro in Kairo.
©  Reuters/Asmaa Waguih

"Die 21" von Martin Mosebach: Sehnsucht nach dem Mysterium

2015 enthaupteten IS-Schergen in Libyen 21 koptische Wanderarbeiter. Martin Mosebach spürt in seinem neuen Buch „Die 21“ ihrem Schicksal nach.

Haben wir uns gewöhnt an den islamistischen Terror? Meldungen über Attacken, die nicht in Europa stattfinden, werden nur noch nebenbei registriert. Die Opfer bleiben doppelt auf der Strecke; Erinnerung scheint für sie nicht vorgesehen. Den Toten eines dieser Massaker hat Martin Mosebach nun ein literarisches Epitaph gewidmet, das zugleich eine bedrängte christliche Welt erkundet, von der wir viel zu wenig wissen.

Vor einem Jahr ist der Schriftsteller, für den Nordafrika schon immer ein Faszinationsraum war, nach Oberägypten gereist, um die Angehörigen jener 21 Männer zu besuchen, denen im Februar 2015 am libyschen Strand bei Sirte die Kehlen durchgeschnitten wurden. Es waren koptische Wanderarbeiter, die man zuvor wochenlang gefoltert hatte, die aber bis zuletzt nicht ihrem christlichen Glauben abschworen. Deshalb wurden sie umgebracht – vor laufender Kamera. Der IS hat ein Propagandavideo der Menschenschlachtung verbreitet („Botschaft an die Nation des Kreuzes, geschrieben mit Blut“), das aber trotz professioneller Machart kontraproduktiv gewirkt hat. Die 21 Schergen, schwarz gewandet und fast alle einen Kopf größer als ihre Opfer, erscheinen als Reihe gesichtsloser Dämonen, eine „höllische Schar“, während die Kopten – in roten Overalls, die an Guantanamo erinnern sollen – die grausige Prozedur mit imponierender Fassung über sich ergehen lassen und noch ganz am Ende, als sich die allzu kleinen Messer durch ihre Hälse arbeiten, den Namen dessen leise sprechen, für den sie sterben: „Jarap Jesoa“, Herr Jesus.

Schon unter ihren Bewachern soll einer gewesen sein, der beeindruckt von stoischer Würde und Glaubensstärke zum Christentum konvertierte und davonlief. Unter den Kopten, schreibt Mosebach, erfreue sich das Video großer Beliebtheit, selbst bei den Familien der Opfer laufe es immer wieder auf dem Tablet – ein erhabenes Dokument der Blutzeugenschaft: „Weit entfernt davon, uns einzuschüchtern, macht es uns Mut.“ Diese Kraft des Bekenntnisses ist es, die den Katholiken Mosebach in den Bann gezogen hat. Sein Buch ist frei von dem, was man sich mit einem zweifelhaften Begriff gewöhnt hat, „Islamophobie“ zu nennen, obwohl es den medienaffinen Mördern darum ging, Furcht und Schrecken (Phobos) vor dem Islam zu verbreiten. Zwar weist er einmal darauf hin, dass als Märtyrer in der muslimischen Welt all jene gefeiert würden, die das eigene Leben drangeben, um möglichst viele „Ungläubige“ mit in den Tod zu reißen, während im christlichen Verständnis als Märtyrer nur jene Menschen gelten, die sich für ihren Glauben töten lassen. Ansonsten geht es ihm so wenig um die Täter, dass es für diese fast so kränkend sein muss wie die Haltung der koptischen Familien, die keinen Gedanken an Rache verschwenden. Die Getöteten sind für sie keine „Opfer des Terrorismus“, sondern Heilige: eine Transformation, mit der niemand rechnen konnte, als sie als arme Arbeiter loszogen.

Leben im mythischen Zustand

Mosebachs Reise führt, vermittelt über mehrere kirchliche Instanzen und Eminenzen, in ein abgelegenes Dorf, aus dem die meisten der 21 Enthaupteten stammten. Es ist eine Welt, in der es zwar Mobiltelefone gibt, deren Bewohner ansonsten aber im mythischen Zustand leben: „Alles, was geschieht, ereignet sich in ihren Augen als Spiegelung, Erfüllung, Wiederholung biblischer Vorgänge.“ Schon wird für die Märtyrer eine Wallfahrtskirche errichtet, deren Betonkuppel von Weitem aussieht wie ein Atomreaktor. Auch die mehrstöckigen Häuser des Ortes sind aus Beton und prinzipiell nicht fertig gebaut. Im Parterre hält man Schweine, Esel und Kälber. Bereit, alles Koptische staunenswert zu finden, kann der Reisende doch nicht absehen von der Verwahrlosung und den stinkenden Müllbergen.

Mosebach ist auch in diesem Buch genuiner Erzähler, der sich in der Rolle des Reporters unwohl fühlt. Angehörige von Ermordeten mit indiskreten Fragen zu bedrängen, liege ihm nicht. Aber er ist ein sensibler Reisender, der eine genaue Witterung für Stimmungen und ein scharfes Auge hat – das Auge eines Ästheten, das umso mehr auf beklemmende Eindrücke achtet. Irritiert betrachtet er die gekrönten Bildnisse der Enthaupteten oder den Blechpokal, den der Bischof einer benachbarten Diözese gestiftet hat, „als handele es sich bei den Martyrern um eine siegreiche Fußballmannschaft“. Das mag religiöser Kitsch sein, aber Mosebach gibt zu bedenken, dass Meisterwerke der Kunst, und seien sie von Raffael, „zu keiner Zeit eine besondere Verehrung beim gläubigen Volk genossen und auch niemals mit Gebetserhörungen und Wunderheilungen in Verbindung gebracht wurden“. Sie lenken zu viel Aufmerksamkeit auf ihre eigene Wunderbarkeit.

Die Auskünfte, die er über die Toten erhält, bleiben dürftig und formelhaft. Alle waren sie fromm, ehrlich, demütig, gute Söhne und Ehemänner, beteten viel, schickten das Geld, das sie verdienten, an ihre Familien. „Ganz normale Jungen“, erinnert sich der Pfarrer. Nicht normal sind die Vorgänge, die sich seit ihrem Martyrium ereignen und von denen die Leute mit viel größerer Auskunftsfreude erzählen: Zeichen am Himmel, Wunderheilungen; mit besonderer Vorliebe retten die Heiligen Kinder, die regelmäßig aus Fenstern stürzen und sanft aufgefangen werden.

Mit archaischer Inbrunst

Viele dieser Merkwürdigkeiten, die der Schriftsteller mit leiser Ironie verzeichnet, gehören auf die Außenseite des Lebens, schmälern nicht das, was hinter der „Trennwand“ geschieht, die auch in der koptischen Liturgie Ritus vom Alltag abgrenzt. Kopten sind die Ureinwohner Ägyptens, seit der islamischen Eroberung vor 1400 Jahren schikaniert, allenfalls geduldet. Vermutlich haben sie gerade aufgrund der nicht endenden Bedrängnisse ihren frühchristlichen Glauben durch die Zeiten bewahrt. Da ist ihnen alle Bewunderung Mosebachs gewiss. Während die erste Hälfte des Buches durch die Behutsamkeit überzeugt, mit der er sich einer fremden Lebenswelt nähert, schleicht sich in der zweiten Hälfte bisweilen ein etwas belehrender Unterton ein, wenn er die historischen Hintergründe des koptischen Christentums und seiner Liturgie erläutert. Und es in archaischer Inbrunst positiv abhebt vom heruntersäkularisierten Christentum hierzulande, das alle Mysterien, alle metaphysischen Schrecken, alle Jenseitsvorstellungen und die meisten biblischen Inhalte aufgegeben habe zugunsten einer alltagsverträglichen Zivilreligion. Mosebach, der die Verflachung katholischer Liturgie wiederholt beklagt hat, findet bei den Kopten einen Gottesdienst, der ganz Mysterienfeier sein will und „kein Religionsunterricht“. Vom Predigen hält der Schriftsteller nichts (auch wenn er hier selbst ein bisschen dazu neigt), er will im Gottesdienst keine „selbst geschriebenen Texte“ von Pastoren vernehmen, kein „Äußern von Meinungen“.

Dass die Ermordeten teils Analphabeten waren, sei deshalb religiös kein Schaden. Umso fester habe sich ihnen der Ritus eingeprägt, sie seien „liturgische Existenzen“ gewesen, gerade in den Wochen ihrer Gefangenschaft. Eine Sehnsucht nach dem Mysterium spricht aus solchen Passagen, die man befremdlich finden mag, die aber auch Mosebachs schriftstellerischem Blick jenes leicht metaphysische Glühen verleiht, das seine Werke und auch die letzten Kapitel dieses Buches auszeichnet, in denen er kontrastierende ägyptische Lebenswelten erkundet: Klöster, die Müllsammlerstadt Mokattam, gigantische Shoppingmalls in Neu-Kairo. „Die 21“ ist ein faszinierend hintergründiger Reiseessay über die heutige Welt zwischen Restmoderne und religiöser Archaik, eine Welt in der Zerreißprobe.

Martin Mosebach: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 272 S., 20 €

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