Theaterkünstler Robert Wilson erhält Goethe-Medaille: Sammler des Lichts
Der amerikanische Theaterkünstler Robert Wilson ist in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet worden. Doch was verbindet die Monumentalkünstler Wilson und Goethe? Von Aufklärern, Weltbürgern und Theatermännern - eine Laudatio von Thomas Oberender.
Der amerikanische Theaterkünstler Robert Wilson ist am Donnerstag in Weimar mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts ausgezeichnet worden. Die Laudatio hielt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele. Wir drucken sie hier in gekürzter Fassung.
Was verbindet die beiden? Den Dichter Goethe, den Geheimrat, Zeichner, Kunsttheoretiker und Naturforscher, mit dem Regisseur, Theaterautor, Maler, Lichtdesigner, Bühnenbildner, Videokünstler und Architekten Robert Wilson? Die Universalität ihrer Interessen und Wirkungsfelder? Beide verbinden in ihrem Schaffen Arbeiten in unterschiedlichen Medien und führen diese zusammen: Dichtung und Theater, das gezeichnete Bild und die Szene, die Begegnung der Naturwissenschaft mit der Logik des Traums und Mythos.
Beide haben über ihren Kulturkreis hinaus gewirkt und dessen Grenzen durchlässiger gemacht, waren Agenten des Austauschs, Übersetzer in der einen oder anderen Weise. Goethe entfloh einem Kulturklima, das wir heute eurozentristisch nennen und lenkte den Blick auf den Orient, er war auf der Suche nach „Weltliteratur“. Robert Wilson wuchs auf in einer Gesellschaft, in der Rassentrennung die Regel war und wurde ein Lehrer, Trainer, Künstler, der in seiner Arbeit zusammenführt, was die Gesellschaft teilt.
Goethe und Wilson wurden beide Mode
Wie Goethe ist Wilson eine Figur, zu der man pilgert, die stilprägend wirkt, etwas, das zur Mode wurde, ein Kosmos. Goethe brauchte so wenig Schlaf wie Wilson, der schöpferisch in einem sicher getriebenen, alternativlosen Sinne wirkt, von unendlichem Fleiß und grenzenloser Ambition.
Beide wuchsen in der Begegnung mit der Macht und Mäzenen – sie brauchten und brauchen Geburtshelfer ihrer Werke und Ermöglicher ihres irdischen Daseinstraums. Wo diese beiden Künstler sind, schafft ihr Nabel um sich eine visionäre Welt und tatsächlich auch so etwas wie Antiprovinz, durch Kunst befreite Felder.
Beide Künstler binden ihr Denken an Objekte, beide designen Möbel und sind Sammler. Goethe sammelte Mineralien, Grafiken, Abgüsse, Gemmen, Bücher, Wilson Stühle, Masken, Bilder, und beide sammeln Menschen, schaffen um sich Netzwerke. Das Goethe-Institut ehrt einen großen, universellen und auch monumentalen Künstler.
Aber vergessen wir auch nicht, was sie unterscheidet. Der eine ist ein Schriftsteller, ein Mann des Buches, der andere Szenograf, einer, der Räume schreibt, räumliche Bilder schafft. Wort und Bildraum – man kann darin auch einen Jahrhundertwechsel sehen, die Begegnung von alter und neuer Welt. Robert Wilsons Werk begann mit Tanzperformances und szenischen Erfindungen ohne gesprochenen Text: „The Life and Times of Sigmund Freud“, „Deafman Glance“ – das waren komplexe tableaux vivants, eine dynamische Konstellation aus streng abgezirkelten Bewegungen von Menschen und Objekten, Klängen und Lichträumen.
Zwischen Wachen und Träumen - Wilson beerbt den Surrealismus
Eine scheinbar unüberwindliche Scheu vor narrativer Sprache führte zu überbordenden Traumszenen ohne Worte, die, so schrieb es Louis Aragon 1971 an den verstorbenen Surrealistenfreund André Breton, „zugleich das wache Leben und das Leben mit geschlossenen Augen“ zeigen, die „Verwirrung zwischen der alltäglichen und der allnächtlichen Welt“. In gewisser Weise begann Robert Wilson sein Lebenswerk mit „Faust II“. Mit Christopher Knowles fand Wilson einen Weg, wie die Wörter einziehen konnten in die Welt seiner Bilder – in Gestalt von Knowles’ phonetischer Architektur, von Sprachmustern, Antitexten, die Wilson später bei Gertrude Stein oder Heiner Müller fand. Mit diesen Künstlern erarbeitet Wilson Bühnenwelten von autonomer Logik, die keine Abbildung der Welt draußen sein wollen, sondern selber eine Welt.
Mit Wilsons weltweitem Erfolg kamen die Angebote großer Institutionen, ihre Repertoirestoffe zu inszenieren – und so drangen Mitte der achtziger Jahre erstmals auch literarische Erzählungen in die Produktionswelt Wilsons. Parallel dazu entstanden neue Arbeitsweisen, die den nächsten Schritt markierten: die Arbeit an mehreren Produktionen gleichzeitig, an präexistenten Werken, Opern, antiken und zeitgenössischen Stücken. Tendenziell werden sie von Robert Wilson noch heute behandelt wie die Wortpartituren von Christopher Knowles – als abstrakte Strukturen, die eine Ordnung bergen: Ablaufzeiten, ein Muster aus Auf- und Abtritten, Ensemble- und Soloszenen. Der aufgeführte Text wird von Wilson nicht kritisiert, nicht illustriert, sondern als Form behandelt. Die in ihm enthaltenen erzählerischen Rohstoffe sehen wir als Räume und Requisiten, aber gleichsam ins Magische entrückt und freigestellt.
Bei Wilson tritt anstelle imitierender Nachahmung ästhetische Zeremonie.
Er stoppt die Zeiten, extrahiert die Elemente, Rhythmen und Wechsel sowie die fundamentalen Botschaften. Und auf der Grundlage dieser Analyse tritt bei Wilson auf der Bühne an die Stelle imitierender Nachahmung dann die ästhetische Zeremonie. Seine Inszenierungen funktionieren als quasiliturgische Ordnungswerke aus Gesang und Sprache, Bewegungen und Bildern, die eine formal präzise Struktur realisieren, die primär ist: Wilsons Szenografie dient zu nichts, sie ist das Werk.
Robert Wilsons Zeremonielles schafft eine Welt ästhetischer Autonomie. Hier wird nichts nachgebildet oder verfremdet – was wir sehen, ist das Fremde, eine immer spezifisch andere Welt im Sinne der Goethe’schen „Weltliteratur“. Wilson fasst in ihr die Menschen nicht an, die da spielen. Er zeigt sie als Typen, als Traumwesen, als purifizierte Erscheinungen, und er sieht viele von ihnen mit viel Humor. Er baut Räume, Verläufe und Klänge um sie herum, aber er achtet sie als Unberührbare, Ferne, Intakte.
Robert Wilson schuf um sich herum eine soziale Skulptur
All das ist zu einem unverkennbar Wilson’schem Kosmos geworden – ein sich in allen Stoffen zu erkennen gebender Formen- oder Verhaltensraum, der inzwischen ein imposantes Ausmaß besitzt. Robert Wilson schuf um sich herum immer auch eine soziale Skulptur. An die Stelle der lebens- und produktionsgemeinschaftlichen Byrd Hoffmann School of Byrds trat in den frühen achtziger Jahren ein intermediales und internationales Schul- und Experimentallabor, die Watermill Foundation.
Mit ihr schuf Robert Wilson eine freie Akademie für junge Künstler aus aller Welt, und zugleich eine Art Superstruktur für seine eigene Produktivität, ein Kreativzentrum, das eine ähnliche Produktivität erlaubt wie die Werkstatt von Jeff Koons, das Büro von David Chipperfield oder das Atelier von Dries van Noten. Lukas Cranach hat hier in Weimar ähnlich gearbeitet. In Watermill entsteht ein forschendes, heilsames Klima, das zwischen Kunst und Leben nicht trennt, wie dies Goethe tun musste, aber nicht Robert Wilson.
Ich habe Goethe immer als das Gegenteil des hochbegabten, tragischen Kleist empfunden – als Künstler des gelingenden Lebens, aus dessen Ordnung die Werke wachsen, wie sie bei Kleist aus dem Scheitern entstanden. Wir wissen, dass es in Robert Wilsons Leben – nach einem abgebrochenen Studium und einer unglücklichen Heimkehr ins Haus der Eltern in Texas – einen Moment auswegloser Dunkelheit gab, den er um ein Haar nicht überlebt hätte. Aber danach, Gott sei Dank, begann ein zweites Leben einer glücklichen Entfaltung, einer in der Theaterwelt vielleicht beispiellosen Tilgung seines Daseins im Werk. Als Robert Wilson das Watermill Center gegründet hat, nannte er diesen neuen Ort: „a place of enlightenment, a place of congregation for a global village“. Aufklärung ist in Wilsons Sinne ein Vorgang, der vor allem Licht bringt, viel Licht, Rigs und Scheinwerfer en masse, weil es ohne sie keine Schatten gäbe, keine Dämmerung, kein Zwielicht.
Aufklärung ist für Wilson ein unabschließbarer Prozess
Licht: Wir wissen um die besondere Bedeutung dieses Wortes in seinem Schaffen. Aufklärung ist für Robert Wilson kein Akt rationaler oder moralischer Dressur, kein Angebot finaler Lösungen, sondern ein unabschließbarer Prozess, der einer umfassenderen Idee von Bildung folgt, die sich auch am Wunderbaren schult, Liberalität einschließt, Sinn und Respekt für eigenwertige Qualitäten fördert, und zur Kreation führt. Goethe und Wilson: Beide sind Theaterleute. Unsentimental erkennen sie als Phänomenologen die Welt in Formen und Typen.
Der eine schrieb Stücke, der andere zeichnete und entwickelte sie. Goethe arrangierte tableaux vivants für Feste am Weimarer Hoftheater und nutzte sie als literarische Bilder in seinen „Wahlverwandtschaften“, während Robert Wilson mit seinen magischen Bildwelten in den Augen Aragons zum legitimen Erbe der surrealistischen Bewegung wurde. Allerdings war die Tatsache, dass er „Einstein on the Beach“ nicht in Worten niederschrieb, sondern in Zeichnungen, der Grund dafür, dass ihm in den USA die Autorenrechte für dieses Stück verweigert wurden. Insofern ist es doppelt begrüßenswert, dass Robert Wilson mit der Goethe-Medaille geehrt wird.
Einer, der vor der Sprache floh, wird für seine Erfindung einer universellen Sprache geehrt, die streng und libertär zugleich ist, von größter Schönheit und uns als Erlebende achtsam behandelt, das Meisterliche freundlich zeigt, human, uns also in Freiheit wachsen lässt.
Thomas Oberender
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