Robert Wilson und Philip Glass reloaded: Das Licht der Zeit
Lebendige Legende: Die Berliner Festspiele zeigen „Einstein on the Beach“, das Spektakel von Robert Wilson und Philip Glass.
Euphorie und Demut liegen dicht beieinander, wenn eine Musik den Zuhörer, eine Inszenierung den Zuschauer packt. Wenn man plötzlich konfrontiert wird mit einem Werk und seinen vollen Kreis durchmisst. Oft geschieht das nicht, es hat etwas zu tun mit ersten und letzten Blicken, mit Liebe, Abschied, Wiedersehen. Wenn es geschieht, ist es möglich, sich an Dinge zu erinnern, die man in der linearen Biografie noch nicht erlebt hat.
„Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und Philip Glass gehört zu diesen Werken. Es hat seinen Ehrenplatz in der Geschichte des Musiktheaters. Aber da wir in einer Zeit des Kleinmuts und der Verunsicherung leben, wollen die Riesen aus der Vitrine ausbrechen, sich noch einmal messen lassen.
Es ist der Abschluss einer langen Welttournee und ein glückliches Ende für Berlin. Die Berliner Festspiele springen über ihren Schatten und präsentieren das Spektakel, das einmal wieder an der Stadt vorbeizuziehen schien, wie so manches große Stück. Die legendäre „Einstein“-Produktion rangiert jenseits der handelsüblichen Kleinformate, und sie ist so aufwendig und so teuer, dass sie hier nur dank einer sechsstelligen Spende der Unternehmerin Inga Maren Otto eingerichtet werden kann; sie zeigt sich Wilson und seinen Projekten seit Jahren verbunden. Das Vorspiel zur „März Musik“ stellt das Festspielhaus vor gewaltige technische Probleme, die Seitenbühne bietet kaum Platz für die Wunderapparate der Inszenierung, in der die Zeit angehalten wird.
Mit der Vergänglichkeit des Theaters findet Wilson sich nicht ab
Das Zauberkunststück vollzieht sich auf mehreren Ebenen. „Einstein on the Beach“ erlebte 1976 auf dem Festival von Avignon seine triumphale Uraufführung, gefolgt von einer nicht weniger bahnbrechenden Premiere in der Metropolitan Opera im gleichen Jahr. „Einstein“ stellte die Weichen für Wilsons Weltkarriere. Nach dem New Yorker Abenteuer war der Künstler hoch verschuldet, und er warf sich auf Europa. Heute, Jahrzehnte später, steht auf Long Island das Watermill Center, sein Hauptquartier, sein Museum, sein Workshop und Labor. Und nach unzähligen Inszenierungen und Installationen aber kommt der 72-Jährige von „Einstein“ noch immer nicht los.
Theater lebt im Moment, von der Faszination der Vergänglichkeit, es ist sterblich wie die Menschen, die in ihm spielen, sprechen, tanzen, singen, musizieren. Wilson hat sich damit nie abgefunden. Er hält den Stoff fest, aus dem die Träume sind und Albert Einsteins Welttheorie. Die Zeit dehnt sich an diesem Strand, an diesem Meer der Glass’schen Kompositionswellen in Richtung Unendlichkeit. Kein Sterblicher hält die Zeit auf. Aber Wilson und Glass und die Choreografin Lucinda Childs perpetuieren den Augenblick.
Vor ein paar Wochen, bei der Aufführung im Pariser Théatre Chatelet, wirkte das Stück frisch. Das Publikum jubelte. Es kann ja nach all den Jahren keine Wiederaufnahme mehr sein, sondern eine Neu- und Nachinszenierung mit jungen Performern. „Einstein on the Beach“ wirft die Zeitmaschine an. Könnte es sein, dass nicht die Bilder und Szenen und die hymnische Musik gealtert sind, sondern vielmehr wir, die Zuschauer? Dass wir bei „Einstein on the Beach“ anno 2014 Zeugen einer sensationellen Wiedergeburt werden? Viereinhalb Stunden ohne Pause dauert die Reise durch Bildräume, die, in Worte gezwängt, sogleich verblassen. Ein Zug, ein Haus, ein Gerichtssaal, eine große Uhr ohne Zeiger, eine riesige Diagonale, die durch das Dunkel schwebt – was bedeutet das, wenn nicht die hoch gestimmten, mantrahaften Klangspiralen des kleinen Live-Orchesters sich auf den Pulsschlag des Publikums legen?
Der Rhythmus ist die Melodie, und das stehende Bild ist die Bewegung.
Man erkennt hier schon, mit neuen Augen, den ganzen Wilson. Als Louis Aragon, der alte Surrealist, zum ersten Mal eine Aufführung von Robert Wilson sah, geriet er vor Aufregung ins Stottern und schrieb einen enthusiastischen offenen Brief. Dies sei das „Wunder, auf das wir gewartet haben. Die Welt eines tauben Jungen hat sich uns geöffnet wie ein Mund ohne Worte. Wir durchlebten ein Universum, in dem es keine Wörter oder Geräusche gibt. Nie in meinem Leben habe ich etwas Wundervolleres gesehen. Niemals ist ein Stück diesem nahe gekommen (...) Freiheit, strahlende Freiheit für die Seele und den Körper“. Das war 1971, Aragon hatte „Deafman Glance“ in Paris erlebt. Paris hat Wilson seitdem nicht mehr losgelassen. Seit 1972 hat das Festival d’Automne über zwei Dutzend Wilson-Produktionen gezeigt.
Seite 2: Im Louvre glühen Robert Wilsons elektronische Porträts von Lady Gaga
Und jüngst öffnete der Louvre seine Pforten für den Amerikaner. Er rekonstruierte dort sein Schlafzimmer, in Wahrheit eine Kunstwunderkammer mit Artefakten jeglicher Art und Herkunft; Masken, Fotos, Zeichnungen, Sitzmöbel, Glas und Keramik, von Südostasien bis zu den Inuit. Schuhe von Marlene Dietrich – und auch ein Bild von Edith Clever. Der Erfolg von „Einstein“ brachte ihn damals nach Berlin, die Schaubühne holte Wilson zum ersten Mal nach Deutschland. Am Halleschen Ufer schuf er „Death, Destruction & Detroit“, eine Aufführung, von deren magischer Fremdheit und Bildgewalt noch heute spricht, wer es erleben konnte. Wilson spielt mit dem Unbewussten. Daher erscheint das Fremde plötzlich so vertraut, aus fernen Träumen.
In einem anderen Raum des Louvre glühten Wilsons elektronische Porträts von Lady Gaga in Superzeitlupe. Die Popkünstlerin erscheint in einem nachgestellten Bild als junge, todgeweihte Mademoiselle von Ingres. Dann – ein anderes Video – liegen ihre Gesichtszüge auf dem abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers, nach einem Bild des Renaissancemalers Andrea Solario. Schließlich nimmt Lady Gaga die Pose Marats ein, des in der Wanne erstochenen Revolutionärs, in der Ikonografie von Jacques-Louis David. Man braucht einige Zeit, um Bewegung zu erkennen, in ihren Augen, ihrem leicht schwankenden Körper. Der Effekt ist umwerfend – für den Betrachter. Lady Gaga-Wilson bleibt eingefroren im digitalen Eis hochauflösender Bildschirme.
Von der Gaga-Galerie zu Albert Einstein ist es ein langer, kurzer Weg. Sein Porträt taucht „on the Beach“ prominent auf, aber Wilson und Glass haben das Stück elliptisch, als eine Art Biografie der Zeit angelegt. Eine Assoziationsflut. Man nennt es Oper, weil es keinen umfassenderen Begriff gibt, wenn auf der Bühne sich die Welt als Klang und Raum und Bild entfaltet.
Die Theaterpioniere der Siebziger dachten in großen Dimensionen
Es tut gut, an die Eruptionen zu erinnern, zu denen das Theater einmal fähig war. Und es fällt schwer, sich damit abzufinden, wie das Theater mit all seinen Multiplikationen und Divisionen auf seinen heutigen kleinteiligen Stand gefallen ist. Nostalgie jedoch wäre bei „Einstein on the Beach“ verfehlt. Das Stück stammt aus der Zeit der Avantgarde und der Dinosaurier der siebziger Jahre. Die Pioniere dachten und arbeiteten in der großen Dimension – bei Wilson waren Kunst, Avantgarde und Geld nie ein Widerspruch, sondern aufeinander angewiesen. Sein permanentes Turbo-Inszenieren weltweit mag dazu beigetragen haben, dass wir seit langem schon in einer Inflation der Bilder leben, die mit einem deflationären Bedeutungsverlust einhergeht.
Nun aber lädt „Einstein on the Beach“ noch einmal zu einer außergewöhnlichen Erfahrung und Wiederkehr ein.
In diesen viereinhalb Stunden ohne Pause aufzustehen und nach draußen zu treten, ist möglich. Es ist so vorgesehen, aber es gibt eine innere Barriere. Im strengen Sinn mag man nichts verpassen, mag die Szene sich in einer Viertelstunde kaum weitergedreht haben; je nach dem Tempogefühl, auf das man sich einstellt. Etwas anderes passiert: Das Leben verdichtet sich, das Körpergefühl. Erschöpfung folgt auf Euphorie und umgekehrt, wenn man sich in diese seltsame Liturgie versenkt. Gewiss, „Einstein on the Beach“ ist ein Museumsstück: doch in dem Sinn, dass Menschen ins Museum drängen, Schlange stehen, hungrig auf Kunstwerke blicken, die das Zeitgefühl weiten.
Zeitgenössisches Theater, ein missverständlicher Begriff: Denn natürlich ist „Einstein on the Beach“ zeitgenössisch, schon deshalb, weil die Künstler es hier und jetzt aufführen, mit großer Leidenschaft. Es erzählt so viel über unser Verhältnis zur Zeit, zur Kunstproduktion: Wie ungeduldig wir sind. Wie viel weggeworfen wird, von den Zuschauern, aber auch von den Akteuren und vor allem den Produzenten, die inzwischen Kuratoren heißen. Wie lang es her ist, dass „Einstein“ das Licht der Theaterwelt veränderte. Und wie lächerlich kurz die Zeitspanne ist, von 1976 bis 2014, und wie kostbar zugleich: ein halbes Leben. Wie verdammt kurz das Leben wäre ohne eine Kunst, die mit großer Kraft gegen das Altern auftritt. Da liegt das Geheimnis der Relativität.
Vor bald einem Jahr hatte am Berliner Ensemble Robert Wilsons „Peter Pan“ Premiere. Da wird die Fee Tinkerbell von einem Mann in einem grünen Kleid gespielt, der in einer Glühbirne steht, mit erhobenen Armen, wie in einem schützenden Uterus, dessen Nabelschnur der Lichtfaden ist. Das Licht, das ist das Göttliche. Aber das Licht im Dunkeln ist eine menschliche Erfindung.
Man nennt es auch Theater. Es hat seine eigene Lichtgeschwindigkeit.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität