Castorfs „Faust“ beim Theatertreffen: Rückkehr an den Ort des Triumphs
Für Frank und sein Reich gelten eigene Gesetze: Mit seinem letzten Volksbühnen-Großakt "Faust" kommt Castorf zum Berliner Theatertreffen. Ein Kommentar.
An jenem 19. Mai 1990 kocht die Stimmung über. Beim Theatertreffen in der Freien Volksbühne (dem heutigen Haus der Berliner Festspiele) gastiert ein Stück vom Münchner Residenztheater, etwas Wildkomisches, verführerisch Fremdes nach Lessings „Miss Sara Sampson“. Der Regisseur ist nur wenigen bekannt, ein 38-jähriger Ostler namens Frank Castorf. Schon in München hat es heftigen Skandal gegeben, verließen Zuschauer brüllend das Theater; der große Kritiker Joachim Kaiser schrieb eine Philippika gegen die Inszenierung, die er gar nicht selbst gesehen hatte. Castorf war im Westen angekommen.
Ein infernalisches Trio amüsiert und provoziert das Publikum. Silvia Rieger, Gabriele Köster und Herbert Fritsch spielen frisch und frei, sehr cool und sexy. Im Parkett kommt das nicht überall gut an. Ein Besucher droht und verlangt sein Geld zurück. Fritsch bittet ihn mit seiner aasigen Freundlichkeit zu bleiben und bietet an, dem Mann das Eintrittsgeld aus eigener Tasche zu erstatten, was die Sache nur schlimmer macht. Als nach einer pantomimischen Wichsszene ein imaginäres Taschentuch in den Zuschauerraum fliegt, ist ein Aufschrei zu hören. Nachher beim Publikumsgespräch im legendären Spiegelzelt gibt es kein Halten mehr. Der Regisseur ist erst nicht da und dann betrunken, die Schauspielerin Silvia Rieger beschimpft die Zuschauer, der Intendant Günter Beelitz ist verzweifelt, der Moderator gibt auf; ich hatte das Vergnügen. An solche Tumulte erinnert man sich gern.
Wir waren jünger, aus dem Osten blies ein starker, belebender Wind. In diesem Theater schien alles möglich. Die Mauer war weg, und die friedliche Revolution von 1989 hatte in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ein gewaltsames, unterhaltsames, irres Nachspiel. Alle pilgerten zu Castorf, im Westen gab es nichts Neues. Er war der Held der Stunde – vieler langer Theaterstunden, die folgten. Die Kommission um Ivan Nagel (ein Westler) beschied, er müsse die Volksbühne übernehmen. Kultursenator Roloff-Momin (ein Westler) gab sein OK. Künstler aus West-Deutschland, der Schweiz und Österreich fanden bei Castorf ihr Glück. Politiker aus West-Berlin engagierten und stützen ihn, waren seine Freunde. Für die Außenwirkung zumal war Castorf in der Kultur das, was Klaus Wowereit für die Politik war: der beste Berlin-Werber.
Castorf ist zum Zeus geworden
Das Castorf-Theater hat bei seinem Aufstieg die Stadt in dem Maße zusammengebracht, wie es sie am Ende der Intendanz spaltete. Heute sagt er: „West-Berlin hat unser Theater gehasst“, und die Volksbühne sei ihm „Mumpe“. An diesem Freitag eröffnet das Theatertreffen mit Castorfs „Faust“. Zwischen dem ernsten, sieben- bis achtstündigen Goethe und dem lustigen Lessing (Sahara Sampson!) liegen 28 Jahre Theaterlebenszeit, ein gutes Dutzend Einladungen Castorfs zum Theatertreffen und ein mehrjähriger Kulturkampf um die Volksbühne, der gerade zu einem Ende gekommen ist und bei dem alle verloren haben. Die zeitliche Differenz umfasst die gesamte Spanne von der lässig-aufgeregten, irgendwie naiven Wendestadt zur angespannt-aggressiven Metropole von heute, die sich selbst nicht mehr geheuer ist in ihrem Wachstum. Die nicht mehr so recht weiß, was sie ist und was sie will und warum hier alle so schnell draufhauen, gern auch auf Neuankömmlinge.
Etwas Molière’sch-Misanthropisches hatten Castorf und sein Theater schon immer. Es war damals befreiend. Und jetzt ist da Beklemmung. Castorf ist in einer großen Theaterstadt, die sonst keine Theatergötter mehr hat, zum Zeus geworden. Umso stärker verehrt, als er abwesend ist. Er verfügte, dass sein „Faust“ nicht an der Volksbühne gezeigt werden dürfe; zu der Zeit saß da noch der stetig vor sich hin schrumpfende Chris Dercon.
Die „Faust“-Installation im Festspielhaus kostet eine halbe Million Euro, das Bühnenbild war in Mecklenburg-Vorpommern eingelagert. Senat und Lottostiftung bezahlen diesen Wahnsinn gern und rollen ihm den roten Teppich aus, auch wenn eine Wiederaufnahme an der Volksbühne erheblich günstiger gewesen wäre. Aber für Frank und sein Reich gelten von jeher eigene Gesetze. Mit seinem letzten Volksbühnen-Großakt kehrt Castorf nun an den Ort seines ersten Theatertreffen-Triumphs zurück. Er reizt seine Kunst bis zur Erschöpfung aus, selbstgefällig bis zum Überdruss, bitter im Erfolg. Mit einem Wort: ein Klassiker.