Berliner Kupferstichkabinett vergleicht: Rembrandt und seine Schüler
Rembrandt oder nicht Rembrandt? Seit Jahren stellen sich Museen dieser Frage. Eine Schau des Berliner Kupferstichkabinett vergleicht Meister und Schüler - und macht Entdeckungen.
Auf den ersten Blick sind keine großen Unterschiede zu sehen. Beide Blätter, zwei Passionsdarstellungen, wurden meisterlich mit der Feder in brauner Tinte gezeichnet. Beide Künstler haben die Figuren mit schneller Hand hingeworfen, die Szene mit wenigen Strichen erfasst. Bei der einen Zeichnung tragen zwei Männer den Leichnam Christi zum Grab. Neben ihnen geht mit hohem Hut und einer Fackel in der Hand Josef von Arimathäa, ein Jünger Jesu, begleitet von einer weiblichen Figur, ebenfalls in gebückter Haltung.
Das andere Blatt zeigt die Beweinung Christi. Trauernde versammeln sich unter dem Kreuz, die Schar wendet sich dem am Boden liegenden Leichnam zu, je dichter die Figuren dem Toten sind, desto feiner ausdifferenziert sind sie gezeichnet – bis hin zu Maria, die dessen Oberkörper in den Armen hält. Ein ungeheuer intimer Moment, der durch die unterschiedliche Behandlung der Dargestellten eine Steigerung erfährt. Darin sind sich die Kenner einig: Die „Beweinung Christi“ ist ein authentisches Werk Rembrandts. „Christi Grabtragung“ dagegen wurde ihm wieder aberkannt und seinem Schüler Jan Victors zugeschrieben. Dafür gibt es gute Gründe: Die Linien bei Victors’ Christusfigur sind beinahe ungelenk, die Schraffur der Rückenfigur wird kaum variiert. Rembrandts Strich wirkt wesentlich subtiler. Doch dafür braucht es den besonderen Blick.
Kupferstichkabinett hat einen der bedeutendsten Rembrandt-Bestände
Als Holm Bevers, der Rembrandt-Experte des Berliner Kupferstichkabinetts, vor genau zwölf Jahren zum 400. Geburtstag von Rembrandt van Rijn, dem wichtigsten Vertreter des Goldenen Zeitalters in Holland, das Werkverzeichnis von dessen Zeichnungen vorlegte, war das zunächst ein herber Schlag. Von den 126 Blättern im Berliner Bestand, die bis dahin alle von Rembrandt stammen sollten, hatte der Kustos über die Hälfte aussortiert.
Der Verlust lässt sich trotzdem verwinden. Das Kupferstichkabinett besitzt weiterhin neben Amsterdam und London den bedeutendsten Bestand an Rembrandt-Zeichnungen. Und dafür umso mehr herrliche Stücke von Künstlern aus dessen Umgebung.
Über ein Jahrzehnt später ist nun zu sehen, was damals zwar nicht verloren ging, aber doch einen anderen Status erhielt, den einer Schülerarbeit. Dass sie nicht weniger reizvoll sind, in ihrer Qualität den Werken des Meisters durchaus nahekommen, lässt sich in Holm Bevers’ Abschiedsausstellung studieren, „Aus Rembrandts Werkstatt. Zeichnungen der Rembrandtschule“. Der Kurator – in den letzten anderthalb Jahren außerdem kommissarischer Direktor, nachdem Heinrich Schulze Altcappenberg in Rente gegangen war – geht Ende Oktober seinerseits in Pension; auf ihn folgt Dagmar Korbacher, die Italienspezialistin des Kupferstichkabinetts. Bevers hinterlässt mit dem zweiten Teil des Werkverzeichnisses, den Werkstattzeichnungen, ein wissenschaftliches Pfund, genauer: einen kiloschweren Bestandskatalog.
In Zeiten eines immer schneller rotierenden Ausstellungsbetriebs sind Bestandskataloge in den Museen eine Seltenheit geworden. Holm Bevers nahm sich die Zeit und brachte mit seinem opus magnum zu Ende, was er seit der Jahrtausendwende in Angriff genommen hatte, als die Vorbereitungen für die große Rembrandt-Jubiläumsausstellung 2006 begannen. „Jemand musste schließlich die Zeichnungen bearbeiten“, so Bevers’ pragmatische Begründung. Ganz offensichtlich hat ihm das feine stilistische Vergleichen aber auch gelegen. In Deutschland gilt er heute als bester Kenner der Materie.
Zusammen mit Kollegen aus Amsterdam, London und Rotterdam hat der Berliner Kustos ein informelles Research Project für die Zeichnungen gebildet, wie es das offiziell auch für die Gemälde gibt, bei denen die Reaktionen auf die Zu- und Aberkennungen allerdings immer sehr viel aufgeregter ausfielen. Die Zeichnungsexperten tauschen sich untereinander aus, reisen zusammen, beugen sich gemeinsam über strittige Blätter und entscheiden dann, weitgehend einvernehmlich. Anders als beim Rembrandt Research Project für die Gemälde stimmen sie nicht demokratisch ab. In Bevers’ wissenschaftlichem Quartett ist er mit seinen knapp 65 Jahren der Jüngste. Den Nachwuchs unter den Kunsthistorikern scheint die pusselige Arbeit abzuschrecken, wohl auch die Sorge, sich auf dem Gebiet so schnell nicht als nächste Autorität profilieren zu können.
Was heute als wahr gilt, kann morgen revidiert werden
Dabei könnte alles auch wieder anders kommen. Das gibt selbst Bevers unumwunden zu. „Es gibt keine Wahrheit bei den Zuschreibungen“, sagt er, „nur Argumente.“ Eine spätere Forschergeneration könnte die jetzigen Identifizierungen wieder revidieren. Doch aktuell hat Holm Bevers das letzte Wort, auch wenn er mit entwaffnender Offenheit immer wieder seine Unsicherheiten bekennt und freimütig die anderslautenden Argumente seiner Kollegen benennt.
Zum Beispiel bei der „Verkündigung an Maria“ von Constantin Daniel van Renesse. Da griff der Meister kurzerhand ein, um das Blatt des Schülers zu korrigieren: Der kindliche Engel wächst unter Rembrandts breiter Rohrfeder zur gewaltigen Figur, der Raum erhält plötzlich eine klarere Struktur. Ob hier wirklich Rembrandt derjenige war, der radikal die Konturen veränderte, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen. Andere Experten glauben, die Korrekturen stammen von Renesse selbst.
Zugleich führen solche Zu- und Aberkennungen zu Verschiebungen im Rembrandt’schen Atlas. Dadurch klärt sich nicht nur das Bild seines eigenen Schaffens, wird schärfer und konzentrierter, sondern auch das seiner Schüler. Über 50 arbeiteten in seinem Betrieb von den 1630er bis in die 1660er Jahre: Anfänger, Profis, Liebhaber, die während ihrer Lehrzeit deutlich unter dem Einfluss des Meisters standen. Manch einer, wie Gerbrand van Eeckhout, musste diese Schule erst wieder verlassen, um einen eigenen Stil zu finden – nicht anders als heute an den Kunstakademien. Inzwischen ist bekannt, dass Rembrandts Schüler nebeneinander in hölzernen Boxen sitzend die gleichen Motive malten, meist biblische Themen. Oder sie gingen mit dem Meister hinaus in die Natur und porträtierten gemeinsam Landschaftsansichten – weshalb die Motive sich häufig ähneln.
Dank Bevers’ haarkleinen Vergleichen, die vor allem auf der Linienführung und der Umrissbildung beruhen, kaum auf physiognomischen Besonderheiten wie speziellen Nasen oder Ohrmuscheln, hat sich aus der Schar der bislang anonym gebliebenen Schüler nun ein neuer Name herauskristallisiert. Bislang wurde nur vermutet, dass Anthonie van Borssom, bekannt als Spezialist für Landschafts- und Tierzeichnungen, ebenfalls in Rembrandts Lehre ging. Für seinen Bestandskatalog konnte Bevers nun den Beweis dafür erbringen. Drei bislang nicht zugeordnete Blätter stammen eindeutig von ihm – die gleiche trockene Feder, der gleiche spröde, gebrochene Strich, der als charakteristisch für van Borssom gilt.
„Eine Neuentdeckung“, jubelt der Kustos. Denn plötzlich bildet sich zusammen mit weiteren Blättern aus Weimar, Dresden, London und München eine Gruppe aus sieben Zeichnungen und damit ein eigenes Œuvre heraus: Geburt eines Rembrandt-Schülers. Und „Der Abschied des Verlorenen Sohnes“, der einst als ein Werk Rembrandts vom Kupferstichkabinett erworben wurde und dann ausgemustert werden musste, hat wieder einen Urheber. In Borssoms Darstellung muss sich der erschütterte Vater des verlorenen Sohns an einem Mäuerchen abstützen, während der Filius mit dem ausgezahlten Erbe ein Pferd besteigt, um in die Welt zu ziehen. Das Blatt mit unbekannter Autorschaft hat durch die neue Zuschreibung seine eigene Heimkehr erfahren.
„Rembrandt oder nicht Rembrandt?“, das ist in der Forschung immer noch die große Frage, aber nicht mehr das Drama. Die nun seinen Schülern gewidmete Ausstellung mit Vergleichsbeispielen aus der Hand des Meisters lehrt die Qualitäten beider zu erkennen. Und einen richtigen Rembrandt richtig zu schätzen.
Kupferstichkabinett, Kulturforum, bis 18. November; Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr. Der Katalog ist im Sandstein Verlag erschienen und kostet 38 €.
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