Begegnung mit Volker Hauptvogel zu "Fleischers Blues": Pils auf rotem Stern
Volker Hauptvogel ist ein Veteran des alten West-Berlin. In „Fleischers Blues“ erzählt er vom seligen Anarcholeben. Ein Kiezspaziergang.
Alles rott im alten West-Berlin. Gleich gegenüber, da ist um 1980 herum ein Mann mitsamt seiner Küche in das darunterliegende Stockwerk durchgebrochen, so mürbe war der Fußboden. „Das war sogar in der Abendschau!“ Und da drüben, wo jetzt die „Regenbogenfabrik“ residiert, da ist ja früher ein Galvanisierungsbetrieb gewesen, von dem nur noch ein Backsteinschlot steht. „Da war das ganze Erdreich vergiftet.“ Und dort links, bei dem Kuchenverkauf, da haben Fleischer und sein Kumpel mit Perücken auf dem Kopf mal ein Kreuzberger Frauentreffen aufgemischt. Volker Hauptvogel zeigt, erzählt, lacht. Über die reale und die literarisierte Vergangenheit.
Fleischer, die Hauptfigur in seinem dieser Tage erscheinenden Roman „Fleischers Blues“, das ist ja eigentlich er. Nur mit Ereignissen und Erzählungen von anderen vermischt. Was da weniger oder wirklicher wahr ist, nimmt sich nichts. Das prächtige, 1887 erbaute Gründerzeithaus in der Lausitzer Straße, vor dem der große, schwere Mann steht, das hat jedenfalls weiland dem Steindrucker W. W. Langmann gehört. Eine Plakette im Hauseingang und eine Episode im Buch künden davon. Wie Fleischer den kaisertreuen Grandseigneur mit dem Hang zu Herrengedecken in den siebziger Jahren auf Wohnungssuche kennenlernt, dass ist nur eine von vielen Mauerstadt-Kuriosa, die Hauptvogel erzählt.
Mit ihm durch das Zwei-Ländereck hüben und drüben des Landwehrkanals zu streifen, ist eine heitere Zeitreise. Zwar lebt der 60 Jahre alte, für Melancholie wie für Kulturpessimismus wenig anfällige Ex-Gastronom, Ex-Schauspieler und Ex-Punkmusiker nach Abstechern Richtung Charlottenburg und Lichterfelde erst seit fünf Jahren wieder hier, doch die Leute kennen ihn und er kennt die Leute. Immerzu tönt es „Hallo Volker“ hier, „Hallo Volker“ da. Er fühlt sich wohl. Neben dem Kommerz gebe es auch jetzt noch Subkultur. „Ach, der Architekt“, begrüßt er einen, der vor einem Späti in der Reichenberger sitzt. „Schwerer Trinker“, kommentiert er, als der Mann außer Hörweite ist. Ja, er sei schon so was wie eine lokale Berühmtheit. Oder meint er womöglich Lokalberühmtheit? Immerhin hat er lange Jahre die Schöneberger Szenewirtschaften „Pinguin-Club“ und „Storch“ geführt. Und auch in „Fleischers Blues“ geht kein revolutionärer Müßiggängertag zu Ende, ohne dass nicht mindestens „Jodelkeller“, „Risiko“, „Dschungel“, das „Walhalla“ am Görlitzer Bahnhof oder die immer noch existente „Oase“ in der Neuköllner Bürknerstraße frequentiert sind, um nur einige der Kaschemmen zu nennen.
Eine deftig-folkloristische Kreuzberger Hedonisten-Revue
Hauptvogels selbstironische, nicht übermäßig fein ziselierte, eher deftig- folkloristische Kreuzberger Hedonisten-Revue gesellt sich zu all den Regeners, Roehlers und Müllers, die in den letzten Jahren an der Legende der West-Berliner Subkultur gestrickt haben. Regener ist gemütlicher, Roehler radikaler, Hauptvogel literarisch weniger ambitioniert, aber dafür mehr am Milieu anarcho-syndikalistischer Hausbesetzer interessiert. Wobei sich der Schriftsetzer Fleischer, der 1976, aus Vergnügungssucht und um der leidigen Bundeswehr zu entgehen, von Bremerhaven nach Berlin zieht, dann doch deutlich mehr fürs Vögeln, Kiffen und Koksen als für die Revolte erwärmt.
Eine Feststellung, die leichten Protest seines Alter egos Volker Hauptvogel nach sich zieht. „Uns ging’s nicht nur um Spaß und Krawall. Es ging um Gegenstrukturen, eine Gegenöffentlichkeit im Kapitalismus. Ich wollte in einer freien, anarchischen Gesellschaft leben.“ Also heißt es Demos besuchen, Häuser besetzen, im Alternativquartier „Walde 33“ Flugblätter drucken und per Piratensender Szenenews funken. Hübsch ist, dass das Berliner Biotop in der Waldemarstraße außer linken Lederjackenträgern auch alteingesessene Handwerksbetriebe umfasst, wie die rund um die Uhr hämmernde Bauschlosserei Dietrich Blühdorn. „Blühdorn war ein geachteter Feind, an den sich selbst die beinharte Walde-Elite nicht ran traute“, lautet ein Zitat aus „Fleischers Blues“. „Zudem hieß es, sein Bolzenschussgerät läge immer einsatzbereit, er hätte vor einiger Zeit einen aus dem Fenster des dritten Stocks kackenden Chaoten ziemlich schwer verletzt.“ Herrje, so wurde in den wilden Siebzigern in Kreuzberg Leib und Leben riskiert!
Hauptvogel steht an der Ecke Reichenberger Straße und Mariannenstraße und gestikuliert. „Da auf dem Hinterhof haben wir mit der ,Kronstadt-Filmproduktion‘ Anarcho-Filme gemacht. Dort Treppengeländer für den Kohleofen rausgeholt. Das Gelände bis zum Kottbusser Tor war ja voller Ruinen und Trümmer.“ Und wo die Häuser bewohnbar waren, regierten Durchsteckschloss, Kohlehandlungen und Kartoffel Krohn. Der Autor kramt in der Manteltasche. Gibt’s ja nicht. Ein Durchsteckschlüssel. So ein richtig echter, mit zwei Bärten, einer zum Aufschließen und einer zum Abschließen nach dem Durchschieben. Hauptvogel muss der letzte Kreuzberger Hinterhofmieter mit dem Relikt aus der Vor-Türsummer-Steinzeit sein.
Hat ausgezehrt, das exzessive Leben
Kurz die Skalitzer Straße passiert und dann sind schon der Heinrichplatz und die Raucherschenke „Zum Elefanten“ erreicht, im Buch mit einem dramatischen Polizeieinsatz verewigt. „Hallo Volker“ grüßen die Wirtin und ein einsamer Pilstrinker. Klar, Hauptvogel kennt „die Heike“, kennt „den Bernd“. Schräg gegenüber, im SO36, ist er letzten August erst mit seiner Band aufgetreten, deren Gründung auch Eingang ins Buch gefunden hat: das 1978 gegründete Mekanik Destrüktiw Komandöh, kurz MDK, eine der ersten Punk-Bands der Stadt, die Anfang der Achtziger sogar in den USA tourte und bis heute einen Ruf als innovative Kombo hat. Von der Originalbesetzung ist außer ihm allerdings nur noch Saxofonist Stephan Schwietzke gelegentlich dabei. Alle anderen leben nicht mehr. Hat ausgezehrt, das exzessive Leben.
Auch Hauptvogel konsumierte so ziemlich alles, was zu haben war. Ebenso hält es Fleischer, mitunter auch in illustrer Kneipenrunde – Ratten-Jenny, Blixa Bargeld, Martin Kippenberger, alle Zugedröhnten da. Dass er das überlebt hat, wundert Privatier Hauptvogel bis heute. Mit dem LSD – „eine Superdroge, die beste, die es gibt!“ - hat er schon 1988 aufgehört. Die Erweckung geschieht bei der Geburt seines Sohnes, die er schwer bedröhnt im Kreißsaal miterlebt. „Er sah mich an, und ich wusste, ich muss mein Leben ändern.“ Ein Vater, ein Wort. Am nächsten Tag gab er den Pinguin-Künstlerclub, wo Die Ärzte und Depeche Mode verkehrten, auf und eröffnete 1989 den „Storch“. Aber das sind Geschichten, die in die nächsten „Fleischer“-Bände einfließen sollen. Der jetzige, als Hörbuch von Guntbert Warns und Hauptvogels altem Musikerkumpel Stephan Remmler gelesene Roman endet 1981.
Warum Volker Hauptvogel bei so vielen biografischen Details nicht gleich eine Biografie geschrieben hat? Er stößt verächtlich Zigarettenrauch aus. „Grauenhaft, ich will ja nicht mein Leben, sondern das alte West-Berlin erzählen.“ Schade, da wäre bei drei Kindern von drei Frauen doch noch Musik drin gewesen. Und das Logo auf dem Buchcover – ein Bier auf rotem Stern – das könnte ein schönes Familienwappen sein. Der Kreuzberger wiegt verneinend das Haupt. „Da ist ja gar kein Vogel drin.“
Volker Hauptvogel: Fleischers Blues. Martin Schmitz Verlag, 240 S., 14,80 €.
Buchpremiere mit dem Autor und Guntbert Warns: Di 15.3., 19 Uhr im „Elefanten“ am Heinrichplatz.
Gunda Bartels
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