Cannes Journal 2017 (5): Papas Neurosen
Die 70. Filmfestspiele von Cannes arbeiten sich am Zustand der bürgerlichen Familie ab - mit Filmen von Michael Haneke und Yorgos Lanthimos.
Auf der Croisette geht es in diesem Jahr ums Ganze, die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel. Dreamworks hat die Fassade des Carlton als Werbefläche für den neuen „Transformers“-Film angemietet. Auf riesigen Leinwänden kämpfen Mark Wahlberg und Anthony Hopkins an der Seite der Autobots gegen außerirdische Invasoren. Jeden Morgen führt der Weg zum Festivalpalais an diesem Spektakel vorbei und erinnert daran, dass Cannes doch mehr ist als gehobenes Arthousekino – eben auch ein knallharter Kampf um Marktanteile und Aufmerksamkeit. Die Kampagnen amerikanischer Studios finden in Cannes in einer Parallelwelt statt, elf Tage lang dreht die Filmindustrie durch. Auch das gehört dazu. Die grundsätzlichen Fragen werden derweil im Wettbewerb verhandelt.
Zum Beispiel der Zustand der bürgerlichen Familie. Gleich drei Filme haben zu dem Thema etwas zu sagen, wobei sich ihr Tonfall stark unterscheidet. Michael Haneke kehrt nach seiner Goldenen Palme vor fünf Jahren mit „Happy End“ an die Croisette zurück, Jean-Louis Trintignant und Isabelle Huppert sind ebenfalls wieder dabei. Der französische Grandseigneur spielt einen hochbetagten Bauindustriellen, Huppert seine eiskalte Tochter und Firmenerbin. Dem Familienunternehmen droht nach einem Unfall auf einer Baustelle der Prozess, aber das ist fast noch das geringste Problem. Der Großvater versucht, seine Enkelin zur Sterbehilfe zu überreden, die muss nach dem plötzlichen Tod der Mutter zum Vater ziehen, während ihr Bruder (Franz Rogowski als Borderliner) mit seinen Pranks die bürgerliche Fassade sabotiert. Man hat das alles von Haneke schon zwingender gesehen, „Happy End“ wirkt wie ein Potpourri bewährter Ideen. Gleichzeitig haben Hanekes gezielte Bösartigkeiten nicht mehr die moralische Fallhöhe seiner früheren Filme, was seinen Figurenzeichnungen zugutekommt. Die Resonanz in Cannes ist dennoch durchwachsen.
Ebenfalls in bekannten Bahnen bewegt sich Yorgos Lanthimos mit „The Killing of a Sacred Deer“. Die fantastische Partnervermittlungsfarce „Lobster“, vor zwei Jahren ein Kritikerliebling im Wettbewerb, hatte ja Anlass zur Hoffnung gegeben, dass der griechische Regisseur einen frischen, weniger zynischen Sound für seine kühlen Gesellschaftsallegorien gefunden habe. Sein neuer Film mit Colin Farrell und Nicole Kidman als sich selbst entfemdetes Mediziner-Ehepaar erweist sich aber schnell als Rückfall in vergangene Zeiten: Die Familie ist ein Hort darwinistischer Gewalt, an dem Lanthimos konsequent humorlos moralische Positionen durchspielt.
Ein Crowdpleaser ist dagegen die Netflix-Produktion „The Meyerowitz Stories“ von Noah Baumbach, der ebenfalls mit bekannten Versatzstücken hantiert, aber über ein perfekt-loses Comedy-Timing verfügt. Die jüdische Familiengeschichte über drei Generationen – mit Dustin Hoffman als knurrigem Patriarchen sowie Adam Sandler, Ben Stiller und der großartigen Elizabeth Marvel als verkorkstem Geschwistergespann – ist eine echte Neurosenmaschine. Baumbach hat offensichtlich aufgegeben, sich seinem Image als neuer Woody Allen zu widersetzen. Neben vielem anderen gelingen ihm dafür allerdings auch interessante Frauenfiguren. „The Meyerowitz Stories“ ist ein Friedensangebot. In Cannes hat sich Netflix damit auch unter hartgesottenen Kino-Traditionalisten Sympathien verdient.