Berlinale-Jurypräsident Paul Verhoeven: „Kunst und Politik muss man trennen“
Paul Verhoeven macht kontroverse Filme und ist jetzt Jury-Präsident der Berlinale. Ein Gespräch mit dem Regisseur über sein Verhältnis zu Amerika, dem Thriller „Elle“ - und Demokratie in der Jury.
Herr Verhoeven, Sie erleben gerade ein Comeback. Letztes Jahr in Cannes wurde Ihr neuer Film „Elle“ von der Kritik gefeiert, nun sind Sie Präsident der Berlinale-Jury. Das europäische Kino empfängt Sie wieder mit offenen Armen, dreißig Jahre nach ihrer Flucht in die USA. Verspüren Sie Genugtuung?
Nein, aber die ungewohnten Respektsbekundungen tun gut. Mit Genugtuung hat das nichts zu tun. Vor allem bedeutet es, dass ich meinen nächsten Film wieder leichter finanziert bekomme.
Sie gelten als kompromissloser Regisseur. Verträgt sich das mit der Rolle eines Jury-Präsidenten?
Bisher hatte ich mit solchen demokratischen Prozessen nie ein Problem. Als Vorsitzender einer Jury sollte man natürlich akzeptieren, dass auch die Meinung anderer Gewicht hat. Im Idealfall sitzt man mit einigen sehr intelligenten Menschen an einem Tisch, diskutiert Filme und hofft, dass niemand in der Gruppe eigene Interessen vertritt. Letzteres ist mir zum Glück bisher noch nicht passiert.
2007 saßen Sie unter anderem mit Alejandro González Iñárritu und Jane Campion in der Jury in Venedig.
Das war eine interessante Erfahrung. Das Schöne an so einem Jury-Job ist doch, dass man die seltene Gelegenheit bekommt, unter sehr konzentrierten Bedingungen zu sehen, was im internationalen Kino gerade passiert. Das ist einer der Gründe, warum ich gerne in einer Jury sitze. Man hat die Ruhe, sich auf Filme einzulassen, ohne ständig von der Arbeit abgelenkt zu werden.
Bleibt Ihnen überhaupt noch die Zeit, die aktuellen Entwicklungen im Weltkino zu verfolgen?
Kaum. Weltkino beschränkt sich in meinem Fall auf das westeuropäische Kino, die USA und hin und wieder vielleicht ein Film aus Japan oder Korea. Selbst in Los Angeles wird es immer schwieriger, fremdsprachige Filme zu sehen. Es gibt noch vereinzelte Repertoirekinos, die französische oder deutsche Filme zeigen, aber dort dreht sich eigentlich alles um die Oscars.
Hinsichtlich der wechselhaften Rezeption Ihrer Filme könnte man vermuten, dass Sie ein gespaltenes Verhältnis zu Filmpreisen haben. Sie sind einer der wenigen Regisseure, die sich die Goldene Himbeere für den schlechtesten Film des Jahres persönlich abgeholt haben.
Sieben Himbeeren habe ich damals für „Showgirls“ bekommen. Man muss solchen Auszeichnungen aber mit einer gewissen Ironie begegnen, sonst macht einen die Kritik fertig. Das war schon sehr bizarr damals. Der „Razzie“ ist gar keine Trophäe, sondern bloß ein Objekt aus Ton, übermalt mit Goldfarbe. Und es gibt davon auch nicht sieben, sondern nur eins. Sie überreichten mir also das Teil, nahmen es mir wieder weg und baten mich danach noch einmal auf die Bühne, um es mir erneut in die Hand zu drücken. Ich fühlte mich ein bisschen wie Jesus: Wenn sie dir auf die linke Wange schlagen, halte ihnen auch die rechte hin.
Sie wissen, dass die Berlinale einen Ruf als politisches Filmfestival hat?
Tatsächlich? Ich persönlich bin ja der Meinung, dass man Kino und Politik nicht vermischen sollte. Wenn Kunst politisch wird, fügt sie sich meist einer Botschaft. Kino als Plattform für Themen ist aber selten Kunst. Ein Urteil über einen Film sollte sich nicht von politischen Positionen abhängig machen. Ich würde sogar sagen, dass gute Filme sich gar keiner vorherrschenden Moral unterwerfen sollten. Jetzt bin ich mal gespannt, welchen Einfluss meine Ansicht über die Trennung von Kunst und Politik auf das Urteil der Berlinale-Jury haben wird.
Würden Sie Ihren Science-Fiction-Film „Starship Troopers“ von 1997 als politisch bezeichnen?
Das ganz sicher, aber er ist kein Thesenfilm. Er enthält sich einer moralischen Wertung. Den Rest muss jeder mit sich selbst vereinbaren. „Starship Troopers“ zeigt junge, schöne Menschen im Krieg, deren Auftreten einige Zuschauer möglicherweise an junge schöne Faschisten erinnern könnte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen politisches Kino. Filme, die mit politischen Themen spielen, sind wichtig. Aber Kino, das sich zum Instrument der Politik machen lässt, halte ich für unglaubwürdig. Niemand hat die Wahrheit gepachtet, die Welt verändert sich ständig. Jede Geschichte hat zwei Seiten – selbst der IS.
Die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Moral ist ein wiederkehrendes Thema in Ihren holländischen wie auch in Ihren amerikanischen Filmen. In Cannes sagten Sie über „Elle“, dass keine amerikanische Schauspielerin in einem so amoralischen Film mitspielen würde. Wie würden Sie den Mentalitätsunterschied zwischen Amerika und Europa beschreiben?
Ich habe das damals gesagt, weil „Elle“ ursprünglich in den USA gedreht werden sollte. Aber keine amerikanische Schauspielerin wollte die Hauptrolle übernehmen, wohingegen ich in Frankreich überhaupt keine Probleme mit dem Drehbuch hatte. Isabelle und ich mussten uns vorab auch nicht über die Moral und Motive ihrer Figur verständigen, nie haben wir über Psychologie gesprochen. Ein Film wie „Elle“ wird in den nächsten Jahren in den USA wahrscheinlich noch schwieriger zu realisieren sein. Viele unbequeme Stimmen werden schon jetzt unterdrückt, sehen Sie sich nur mal die Diskussionen um das Thema Abtreibung an. In Amerika herrschte schon immer diese christlich-motivierte Agenda vor. Ich meine, der Präsident schwört seinen Amtseid auf die Bibel.
Sie gingen Mitte der achtziger Jahre nach Hollywood, weil Ihre gesellschaftskritischen, durchaus kontroversen Filme im liberalen Holland nicht mehr finanziert wurden. Fühlen Sie sich in Europa heute wieder besser verstanden als in den USA?
Einerseits ja. Aber „Elle“ bekam auch in den USA sehr viele positive Kritiken und sogar Preise. Es gibt also einen – zugegeben kleinen – Kreis von Menschen, die mit dem Film und seiner, wie Sie es nennen, Abwesenheit von Moral etwas anfangen können. Im Prinzip stimme ich Ihnen allerdings zu. Ich pendele seit einigen Jahren wieder öfter zwischen Europa und Amerika.
Paul Verhoeven über Isabelle Huppert und Frauenrollen abseits der Stereotypen
Haben Sie eine Hassliebe zu Amerika?
So würde ich es nicht nennen, obwohl ich mich schon als Europäer fühle. Ich bin immer kritisch gegenüber der amerikanischen Politik gewesen, speziell unter Bush. Aber die letzten Jahre waren auch fantastisch. Stellen Sie sich das mal vor: acht Jahre unter einem anständigen, klugen, sozial engagierten Präsidenten, der nicht ständig in andere Länder einmarschieren will. Was dagegen gerade passiert, ist besorgniserregend. Die Amerikaner haben offensichtlich nicht verstanden, was sie an Obama hatten.
Isabelle Huppert spielt in „Elle“ eine Frau, die ihre Opferrolle nicht akzeptiert und ihre Sexualität auf aggressive Weise auslebt. Das erinnert an Sharon Stone in „Basic Instinct“ – nur dass Isabelle Huppert heute dreißig Jahre älter ist als damals Sharon Stone. Warum gibt es für Frauen ab einem gewissen Alter keine Rollen von diesem Kaliber mehr?
Ganz einfach. Das ist die Konsequenz von Tausenden von Jahren gesellschaftlicher Unterdrückung. Das Verhalten von Isabelle Hupperts Figur ist weder eindeutig männlich noch weiblich konnotiert. Jeder Mensch folgt seinen Bedürfnissen und nimmt sich, was er braucht. Es ist nur etwas schwerer, zu akzeptieren, wenn eine Frau dies tut. In den USA könnte ich mir allenfalls vorstellen, dass Meryl Streep oder Susan Sarandon solche Rollen übernehmen. Das Problem ist aber ein anderes: In Hollywoodfilmen gibt es keine 50-Jährigen, so alt ist Isabelle Hupperts Figur im Film, die ihre Sexualität so freimütig ausleben.
Hat Sie die positive Resonanz auf „Elle“ überrascht? Sie müssen doch sicher darüber schmunzeln, dass „Elle“ als feministischer Film gefeiert wird. Bisher wurde Ihnen oft Misogynie vorgeworfen.
Ich bin in meinem Leben schon so manches genannt worden. Es gab aber auch viele Feministinnen, selbst in den USA, die „Basic Instinct“ als pro-feministisch bezeichneten. Das war jedoch nie meine Absicht, weder damals noch heute mit „Elle“. Ich denke darüber nicht einmal nach. Natürlich drücke ich mich durch meine Charaktere aus, das gilt aber genauso für die männlichen Figuren. In fast allen meinen holländischen Filmen spielt zum Beispiel Rutger Hauer die Hauptrolle. Es fällt mir allerdings tatsächlich leichter, mich mit weiblichen Charakteren zu identifizieren. Ich fühle mich auch wohler mit einer Frau in einem Raum als mit einem Mann.
Die positive Rezeption von „Elle“ hatte doch auch viel mit Ihrem Image als kontroverser Regisseur zu tun. Kultivieren Sie Ihre Rolle als Tabubrecher?
Ich lege es nicht darauf an, die Leute zu provozieren. Meine Filme verzichten lediglich auf moralische Urteile. Die Figuren mögen sich unmoralisch verhalten, aber ich versuche das nicht zu bewerten. Das Kino darf nie selbstgefällig werden. Als Regisseur muss man stets eine offene Flanke zeigen, auch wenn es manchmal wehtut. Einige Menschen fühlen sich davon eventuell provoziert, aber soll ich deswegen andere Filme machen?
Mit Ihrer Rückkehr stehen Sie nun in der Tradition des europäischen Autorenfilms. Ist „Elle“ ihr Abschied vom Genrekino?
Meine amerikanischen Genrefilme wie „Robocop“ oder „Total Recall“ entstanden aus reiner Notwendigkeit. Die Genres waren lediglich ein Vorwand, um unter Hollywood-Bedingungen etwas über die Gesellschaft, die Medien, die Politik zu erzählen. Ohne dieses persönliche Interesse hätte ich nicht mehr als Popcornfilme für Teenager gedreht. Wenn du der Wirklichkeit ins Auge blickst, was als niederländischer Realist immer mein Anspruch war, musst du diese überholte Vorstellung von Genre vergessen. Das wollte ich mit „Elle“ zeigen. Das Leben kennt keine Genres. Du stehst morgens lachend auf und am Abend stirbt ein guter Freund. Unser Leben kann jeden Augenblick von einer Komödie in die Tragödie kippen.