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 Nach ihrer unangemessenen Äußerung entschuldigte sich Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock nachts auf Twitter.
© Tobias Schwarz/AFD

Entschuldigungskultur auf Twitter: Never ending sorry

Vom Umgang mit Impulsen, Schuld und Entschuldigen in Zeiten von Twitter.

Mehr als ungeschickt war die Bemerkung, die Annalena Baerbock in den Sinn gekommen war. Angesichts von Aufnahmen der dehydrierten und zitternden Kanzlerin hatte die junge Grünen-Politikerin bei einer Pressekonferenz zum Klimaschutz-Sofortprogramm die Mutmaßung angestellt, es werde "sozusagen auch bei der Bundeskanzlerin deutlich, dass dieser Klimasommer gesundheitliche Auswirkungen hat".

Gewiss, die Grünen können es nicht abwarten, dass die Glocke für Neuwahlen schlägt, solange die Partei sich in ihrem sagenhaften Umfrage-Hoch findet. Da ist, wie es an der Börse gern heißt, "Fantasie drin". Eine überanstrengte Regierungschefin, ein überhitzter Sommer - in der Fantasie der Grünen-Vorsitzenden schien sich das zum ersten Akt eines Wechseltheaters zu addieren. Doch Baerbocks ferndiagnostischer Vorstoß verfehlte sein Ziel und schlug um ins Gegenteil, Entrüstung folgte sofort. Per Twitter ruderte die Politikerin am Samstag in aller Früh zurück. Ihre Äußerung sei "ein Fehler" gewesen, "dafür habe ich die Bundeskanzlerin um Entschuldigung gebeten. Ich habe unbedacht einen Zusammenhang hergestellt, den es nicht gibt." Ach ja.

Die Blitzfrequenz nimmt zu

Die öffentliche Dramaturgie - Ausspruch, Schuldspruch, Entschuldigung - folgt meist gleichen Mustern. Den Anfang macht ein Affront, eine verbale Entgleisung. Die Übertretung provoziert empörte Resonanz, das dürfe "so nicht stehenbleiben". Nun naht die Stunde der öffentlichen Bitte um Verzeihen, eine Beichte, ein Gestus des erhofften Tilgens. Nicht erst seit dem Gang von Canossa verhält es sich so, und strukturell verläuft der Prozess auch im beginnenden digitalen Zeitalter nicht viel anders.

Oder doch? Denn der Taktschlag ist jetzt schneller geworden, die Blitzfrequenz nimmt zu in der Ära der Twitter-Gewitter. Es geht schneller und schneller, parallel zur Beschleunigung von Ravels Bolero über Rock´n´Roll zum Hämmern von Technobeats. Beides scheint sich derzeit zu steigern: Die Schlagzahl der Entgleisungen ebenso wie die Sensibilität für das Aufspüren von Kränkungen jeder Art, nicht zuletzt, da sie, vom Netz verteilt, für immer mehr Leute immer wahrnehmbarer werden.
Alle Naslang wird vor allem beim Twittern, Posten, Bloggen irgendein Individuum, eine Gruppe, ein Projekt öffentlich desavouiert, gerade der unregulierte Raum des Digitalen lässt es - noch - zu. Ebenso wird sich aber alle Naslang entschuldigt, werden verbale Scherben aufgekehrt, politische und andere. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter musste sich beim Blogger Rezo für die unwahre Behauptung auf Twitter entschuldigen, dieser arbeite im Auftrag einer Werbefirma.

Auf Facebook entschuldigte er sich für Facebook

Eine österreichische EU-Abgeordnete tat verbal Buße für ihren rassistischen Facebook-Post, wonach Afrikaner "nicht wie wir Europäer denken und arbeiten, aber gerne wie wir Europäer leben" wollten. Im März 2018 sah sich der Facebook-Gründer Zuckerberg zur Abbitte gedrängt für den massenhaften Missbrauch von Nutzerdaten durch die Firma Cambridge Analytica. Auf Facebook entschuldigte er sich für Facebook. "Wir haben die Verantwortung, eure Daten zu schützen", teilte er mit. "Können wir das nicht gewährleisten, verdienen wir nicht, für euch zu arbeiten." Riesenzerknirschung eines Riesen. Von der Fülle der Fälle, die das Netz über Medien und soziale Plattformen liefert, macht seit Jahren Harry Shearer Gebrauch, ein passionierter Sammler von Reue-Beweisen. Als Host von "Le Show" zitiert er im amerikanischen Radio "The Apologies of the Week", die Entschuldigungen der Woche. Manchmal geht es sogar um große, historische Fälle.

Im Juni etwa entschuldigte sich Kanadas Premier Trudeau bei der italienischen Community im Land für Internierungen von Italo-Kanadiern während des Zweiten Weltkriegs. Sie standen unter Verdacht, mit Mussolini zu sympathisieren. Im selben Monat entschuldigte sich der Gouverneur von Kalifornien für das Unrecht wider die Ureinwohner im 19. Jahrhundert. Doch die meisten Fälle gehören in die Kategorie Kränkung, und sehr viele haben mit unkontrollierten Handlungen und verbalen Äußerungen zu tun.

Very sorry

Weiteres aus Shearers Juni-Sammlung: Eine Universität entschuldigte sich bei Studentinnen für sexistische Bemerkungen eines Pianisten bei einem Campus-Konzert. Ein Thinktank entschuldigte sich bei einem Klimaforscher für das Diffamieren von dessen Arbeit und löschte einen Artikel von seiner Website. Der Bürgermeister von Tucson, Arizona grämte sich öffentlich, weil er das Wort "fucking" verwendet hatte ("he dropped an F-bomb" wird der Tatbestand umschrieben).

Der Bürgermeister von Phoenix, ebenfalls in Arizona, entschuldigte sich bei den Eltern einer Vierjährigen, die von Polizisten mit der Waffe bedroht worden war, weil sie im Supermarkt eine Puppe gestohlen haben sollte. Das Supermodel Bella Hadid bedauerte vor arabischen Followern ein Instagram-Foto, auf dem ihre Schuhsohle auf Maschinen arabischer Fluggesellschaften wies, was als symbolischer Tritt gedeutet worden war. Nein, nein, ein "honest mistake". Ein Gewerkschaftsboss aus Minnesota entschuldigte sich bei Kriegsveteranen für ausfallende Worte zu einem Schiff der US-Marine. Eine Sportreporterin war "very sorry" für "unsensiblen Kommentare" über Baseballspieler.

Es geht um echte Einsicht

"Es kommt noch mehr", verspricht der Radiomann zwischendurch, "bleiben Sie dran." Verblüffend ist die weltweite Entschuldigungsernte, die er jeweils ausbreiten kann. Auf der Skala vom Kalkül zur Aufrichtigkeit erhält jede Entschuldigung ihre je eigene Farbe - Entschuldigen ist eine Kulturtechnik, eine Kunst, die Denken und Fühlen herausfordert. "Der schlechte Charakter", heißt es in einer alten Sentenz, "verzeiht zwei Dinge nicht: Das Schlechte, was er dir angetan hat, und das Gute, das du ihm getan hast."

Beim Entschuldigen geht es um die Einsicht ins eigene Fehlverhalten und das Hoffen auf die die Fähigkeit des Gegenübers, Güte zu haben, zu vergeben. Wer sich zornig gezwungen sieht, zu Kreuze zu kriechen, oder wer auf den Vorteil, spekuliert, den das clevere Beschwichtigen durch ein "sorry" bringen soll, ent-schuldigt sich nicht. Er nötigt vielmehr den Adressaten, sich mit dem vorgetäuschten Affekt zu befassen, auf das falsche Spiel einzugehen oder erneute Eskalation zu riskieren.

Digitale Posaune

Entgleisungen, die unausgeräumt bleiben, verhindern Verstehen, Analyse und Bewältigen, das Beilegen von Konflikten. Im Affekt getane, diffamierende Äußerungen beschädigen nicht nur den Beleidigten, sondern auch das Ich-Ideal dessen, der die Äußerung getan hat, denn er ahnt oder weiß, dass das Verhalten antisozial war. Ehrliche Entschuldigungen dagegen erweitern die Souveränität, die Integrität desjenigen, der sich dafür entscheidet. Diese Erkenntnis ist so uralt wie unendlich oft belegt. In Zeiten der Twitteritis, von der längst auch Staatschefs befallen sind, ist es klug, spontane Impulse im privaten Raum zu verhandeln, anstatt erratisch hinauszuposaunen, was einen gerade stört oder verärgert. Wo die digitale Posaune auf das Antippen mit der Fingerkuppe hin gleich übers ganze Land dröhnt, ist es klug, sie wegzulegen.

Annalena Baerbocks Kollege und Grünen Co-Vorsitzender Robert Habeck hat sich die Fallen selber aus dem Weg geräumt, als er seine Datenkonten bei Twitter und Facebook löschen ließ. Er verzichtet jetzt auf zigtausend Follower und schützt stattdessen seine privaten Daten - und seine Integrität.

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