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Mann mit Hoffnung. Robert Menasse wünscht sich eine europäische Republik. Für seinen Roman „Die Hauptstadt“, der in der Welt der EU-Institutionen spielt, bekam er 2017 den Deutschen Buchpreis.
© pa / Jan Vetter

Robert Menasse zur Europawahl: „Nation – das hat mit mir nichts zu tun“

Robert Menasse hat mit "Die Hauptstadt" den EU-Schlüsselroman geschrieben. Ein Gespräch über kratzende Pullover, Austrofaschisten und seine Vision für Europa.

Herr Menasse, Österreich erlebt nach dem Strache-Video eine massive Krise, und nun steht Bundeskanzler Sebastian Kurz vor dem Misstrauensvotum. Was bedeutet das für die Europawahl am Sonntag?

Europapolitisch hat das überhaupt keine Bedeutung, weil es für das Europäische Parlament unerheblich ist, ob ein freiheitlicher Abgeordneter in diesem Parlament sitzt. Im Grunde ist die Wahl zum Europäischen Parlament bloß ein innenpolitisches Stimmungsbild. Man wird sehen, wer von diesem Skandal profitiert und wie viele sich von der FPÖ abwenden. Ich fürchte: nicht allzu viele.

In den letzten Jahren sind Sie oft als Europa-Fürsprecher aufgetreten, haben eine Weile in Brüssel gewohnt und zuletzt Ihren Roman „Die Hauptstadt“ veröffentlicht, der in der Welt der europäischen Institutionen spielt. Wo kommt das bei Ihnen her?
Ich bin in Wien aufgewachsen. Das ist, zumindest theoretisch, eine gute Voraussetzung, um kein Nationalist zu werden. Nicht unbedingt deswegen, weil Wien historisch die Metropole eines Vielvölkerstaats war, auch wenn man es durchaus noch spüren kann. Vor allem aber deswegen, weil Wien die einzige wirkliche Stadt in einem Land ist, das sich selbst als Alpenrepublik versteht und das Rurale als Grundierung seines Selbstverständnisses sieht. Schon deshalb ist für mich die Idee einer nationalen Identität eine Fiktion, die nichts mit mir zu tun hat.

Sie haben immerhin den gleichen Pass.
Was ist im Hinblick auf Identität die gemeinsame kulturelle Schnittmenge von mir und einem Tiroler Bergbauern? Doch nicht einmal die Sprache. Objektiv habe ich viel mehr gemeinsam mit Menschen zum Beispiel in Bratislava, das nur 40 Minuten von Wien entfernt liegt, aber die Hauptstadt einer anderen Nation ist. Das ist verrückt. Die Öffnung der Grenzen hat diesbezüglich Normalität hergestellt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich kann Freunde in Tirol haben, aber ich kann auch Freunde im Alentejo oder am Peloponnes haben.

Das ist aber eine eher abstrakte Ableitung eines leidenschaftlicher Europäertums.

Nein, eine durchaus existenzielle. Ich bin ja in Wien in die Schule gegangen, in ein Internat. Man kann nicht zum Patrioten eines Landes werden, wenn man in einer faschistischen Schule hinter Mauern aufwächst.

Inwiefern war die Schule faschistisch?

Ich sage nicht nationalsozialistisch. Es war eine strukturell faschistische Schule, in der wir diesen Faschismus vermittelt bekamen, der in Österreich als Patriotismus gilt. Das versteht ihr Deutschen so schwer. Dass wir in Österreich zwei Faschismen hatten: den hausgemachten Austrofaschismus und den Nationalsozialismus. Der faschistische österreichische Kanzler Dollfuß gilt als Patriot, weil er gegen Hitler war. Als wäre ein konkurrierender Faschismus gleich Antifaschismus. Nach dem Krieg hat man in Österreich entnazifiziert, aber nie die Distanzierung zum Austrofaschismus hergestellt. Das erklärt bis heute die konservative Politik, eben auch diese Regierung, die wir bis gerade hatten. Man kann in Österreich Faschist sein ohne schlechtes Gewissen, man ist ja kein Nazi – man ist Patriot. Deswegen sind die österreichischen Rechten, Rechtsextremen und das Bürgertum mit seinen faschistoiden Tendenzen entrüstet, wenn man sie Nazis nennt. Sie sind auch wirklich keine. Sie sind Austrofaschisten – und das ist schlimm genug.

Ihr jüdischer Vater entkam den Nazis 1938 mit einem Kindertransport von Wien nach England. Hat Sie auch diese Familiengeschichte so europäisch gemacht?

Ich habe jedenfalls nie das Gefühl gehabt, ich bin ein normaler Österreicher. Alle Mitschüler hatten Tanten und Onkel, Familie, die da war und sich traf. Aber meine war, sofern sie überlebt hat, in der Welt verstreut. Und viele habe ich nie gesehen. Manchmal kamen von irgendwoher Päckchen, zum Beispiel von einer Tante aus Tel Aviv. Sie schickte etwa einen furchtbaren Pullover aus kratzender Kunstwolle, wenn ihr einfiel, ich könnte frieren im kalten Wien. Egal, jedenfalls waren für mich die Konsequenzen der mörderischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts früher und deutlicher spürbar als für viele andere, für die die Lederhose und die mitwachsendem Wohlstand wachsende Unschuld prägender waren als die Geschichte und die Lehre, die daraus gezogen wurde.

Sie meinen den Gründungsmythos der EU: Nie wieder Krieg. Haben die Europäer den vergessen?

Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Nationalismus, der dazu geführt hatte, dass die Nationen übereinander herfielen – das alles spielt im Bewusstsein der Nationalisten keine Rolle. Sie haben es vergessen oder nie begriffen. Sie beziehen aus einer zutiefst menschlichen Sehnsucht nur kriminelle Energie, nämlich aus der Sehnsucht nach Solidarität. Sie können sich Solidarität nur als nationale vorstellen. Sie glauben, sie sind in einer starken Nation Herren im eigenen Haus. Aber in diesem Haus werden sie nie in der Beletage wohnen. Schon deshalb verbindet sich Nationalstolz bei vielen mit Ressentiment und Aggression.

Bringt es was, mit diesen Hausherren zu sprechen?

Manchmal kann man mit diesen Menschen schon reden. Kürzlich kam ich in ein Dorfwirtshaus, da lief der Fernseher und die Leute applaudierten dem österreichischen Innenminister, der sagte, man müsse die Menschenrechte evaluieren, weil sie Migrationspolitik erschwerten. Diese Aussage ist ein Skandal! Ich sprach einen an, der neben mir an der Theke stand: Hast du dir mal überlegt, was das bedeutet, wenn die Menschenrechte nicht mehr gelten, dann gelten sie auch für dich nicht mehr? Er sagte: Das wäre ja eine Sauerei. Die Leute handeln gegen ihre eigenen Interessen!

Da haben Sie einen Einzelnen nachdenklich gemacht, aber warum denken und handeln derzeit so viele gegen ihre eigenen Interessen?

Sie wollen keine Opfer sein, nicht abgehängt in einer Welt wachsenden Reichtums, des Reichtums anderer. Was ihnen von den Rechtspopulisten angeboten wird, klingt verführerisch, macht sie aber erst recht zu Opfern. Es wird ihnen erzählt, dass für sie kein Geld da ist, weil wir so viel für Flüchtlinge, Ausländer, Kriminelle ausgeben müssen. Konzerne zahlen keine Steuern, gehasst werden jedoch die Flüchtlinge, die Allerärmsten. In Österreich wurde zum Beispiel die Mindestsicherung gekürzt, es wurde perfide argumentiert: Die ganzen Flüchtlinge kommen zu uns, um in der sozialen Hängematte zu liegen. Also müssen wir die kürzen, damit die sich das drei Mal überlegen. Jetzt kann man die aber nicht nur für Ausländer kappen. Also auch für Abertausende Österreicher. Was passiert, wenn die das wirklich spüren? Werden sie in ihrer Wut noch weiter nach rechts gehen oder werden sie sich umdrehen?

Einen Teil davon spüren wir eventuell schon am kommenden Wahlsonntag. Was wählen wir da eigentlich?

Eine europäische Volksvertretung, von der viele die irrtümliche Vorstellung haben, dass sie ein Club zur Verteidigung nationaler Interessen ist. Die Wahl wurde zur Entscheidungsschlacht zwischen Nationalisten und Europäern erklärt und das ist eine Farce. Abgesehen vom Systemfehler, dass wir das europäische Parlament nur auf der Basis von nationalen Listen wählen können, ist momentan zu beobachten, wie ebendeshalb alle wahlwerbenden Parteien, selbst die der Mitte, in der Nationalismusfalle sitzen. Das geht bis in die Linke, schauen Sie sich Mélenchon in Frankreich an oder Sahra Wagenknecht. Sie redet über einen nationalen Sozialismus, das ist grotesk! Wo ist, im Bezug auf Europa, der Unterschied zur AfD? Sogar die Sozialdemokraten versprechen, den nationalen Arbeitsmarkt zu schützen, das nationale Sozialsystem zu verteidigen. Ein Wähler, der nicht Alzheimer hat, sagt natürlich: Du hast gestern noch die Internationale gesungen, ich glaube dir nicht.

Bruno Kreisky in Österreich, Willy Brandt in Deutschland, Olof Palme in Schweden, das waren doch auratische Figuren. Wo sind sie hin?

Im Rückblick ist ihr Erfolg aus den 70ern leicht zu erklären: In all diesen Ländern war zwar nach dem Krieg die Infrastruktur wiederaufgebaut worden. Aber das öffentliche Bewusstsein war noch immer geprägt von konservativen und traditionellen Ideologien. Erst Bruno Kreisky reformierte das reaktionär katholische Österreich, Frauen konnten allein Konten eröffnen, Abtreibung war nicht mehr strafbar, es gab eine Justizreform, eine Bildungsoffensive, freien Zugang zu Universitäten ... Das war gut. Was ist das vergleichbare Angebot der europäischen Sozialdemokratie heute? Die versteht nicht einmal mehr, was es heißt, prekär zu arbeiten. Wenn junge Menschen mit drei Jobs in Selbstausbeutung von einem Mindesteinkommen leben, aber vor der Steuer als Unternehmer gelten. Als Sozialdemokrat des Herzens und als Europäer finde ich heute bei den Grünen mehr politischen Realitätssinn.

Herr Menasse, Anfang des Jahres mussten Sie sich entschuldigen, weil Sie Walter Hallstein in Ihrem Buch und darauffolgenden Diskussionen ein Zitat zugeschrieben haben, das er so nicht gesagt hat.

Aber gesagt hat er es. Ich habe den Fehler gemacht, einen wichtigen Gedanken von Hallstein, den ich zusammengefasst habe, in Anführungszeichen zu setzen. Falsch waren die Gänsefüßchen, aber nicht der Gedanke. Ich werde das so nicht mehr machen. Aber es bleibt dabei, ich will unsere Zeit erzählen können und gleichzeitig etwas tun, das heutige Politiker offenbar nicht mehr können: eine Vision anbieten.

Und wie sieht die aus?

Ich erinnere zum Beispiel an die Habsburger Monarchie, die gezeigt hat, dass viele Kulturen, Sprachen, Völker ohne gemeinsame Nationsidee unter dem Dach eines Rechtsstaats auf einem gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung zusammenleben können. Es ist nicht daran gescheitert, dass so was generell nicht funktionieren kann, sondern: Die Nationalisten haben sie in die Luft gesprengt! All die kleinen Nationen, die daraufhin gebildet wurden, haben danach nicht einen Tag in größerer Freiheit, in Rechtsstaatlichkeit und wachsendem Wohlstand gelebt. Sondern erst wieder all das kennengelernt, als sie in die nachnationale Entwicklung der EU gekommen sind. Die Vision ist also: eine europäische Republik, in der die BürgerInnen souverän sind, und nicht die Nationen.

Und die EU – ist die unsprengbar für Sie?

Natürlich kann man auch die EU in die Luft sprengen, es arbeiten ja genug daran. Dann werden die Mitläufer der Verführer erneut vor rauchenden Trümmern stehen und betroffen sagen: Das soll nie wieder geschehen können. Ach, die armen Mitläufer. Die Mitläufer sind die Täter. Aber wir müssen ihnen mehr entgegenhalten als die Erinnerung an die Geschichte.

Darauf verweisen sie doch selbst stets!

Ja, aber mittlerweile geht es darum, mit gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen politisch fertig zu werden. Ein Begriff, der mit Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Geburtsurkunde der EU, nie gefallen ist: Globalisierung. Das bedeutet nichts anderes als Zertrümmerung aller nationalen Souveränität und nationaler Grenzen. Darauf müssen wir eine Antwort finden. In Europa hätten wir eigentlich die größte Expertise dafür, und genau in dem Moment kommen die Nationalisten zurück. In Wirklichkeit gibt es nicht ein einziges Problem, das innerhalb von nationalen Grenzen gelöst werden kann. So wenig wie die Erderwärmung an nationalen Grenzen haltmacht, wenn der Innenminister sagt: Die lassen wir nicht rein. Die Finanzströme, die Wertschöpfungsketten, internationaler Terrorismus, Cyberwar, überhaupt alles, was mit Internet zu tun hat, die ökologischen Probleme, Welthandel, multinationale Konzerne. Dass es so viele Wähler gibt, die glauben, das sei national zu lösen, ist für mich ein politisches Wunder. Unbegreiflich.

Wir sollen also am Sonntag nicht wählen?

Doch! Das Europäische Parlament mit seinen heutigen Möglichkeiten ist erkämpft worden von engagierten und hellsichtigen Abgeordneten. Solche gibt es noch und sie stehen zur Wahl. Auch wenn ich mir über das Kräfteverhältnis heute keine Illusionen mache.

Ist der Wahltag ein feierlicher Tag für Sie?

Es ist zumindest ein europaweiter Tag der Erinnerung an eine wunderbare Idee.

Das Gespräch führten Julia Prosinger und Rüdiger Schaper. Es fand im Anschluss an eine Veranstaltung der „Lit Potsdam“ in der Villa Jacobs statt. Robert Menasse war Writer in Residence beim diesjährigen Literaturfestival.

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