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Viva Cuba! Szene aus Castorfs "Les Misérables"-Inszenierung.
© Matthias Horn / Berliner Ensemble

Castorfs „Les Misérables“ am BE: Müdigkeit und Theaterglück

Auch nach knapp acht Stunden Theater ist das Publikum bei bester Laune: Die Langfassung von Frank Castorfs „Les Misérables“ am Berliner Ensemble.

Eines muss man ihm lassen: Frank Castorf bleibt im Gespräch, und zwar anders als Chris Dercon, sein Nachfolger als Volksbühnenchef, mit dem, was er tut – und nicht mit dem, was er nicht tut. Vor zwei Wochen erst „Der haarige Affe“ in Hamburg, jetzt die Premiere der Extended Version von „Les Misérables“ am Berliner Ensemble, im Mai dann der „Faust“ beim Berliner Theatertreffen, im Sommer „Hunger“ von Knut Hamsun bei den Salzburger Festspielen, auch Castorfs „Walküre“ in Bayreuth ist noch mal zu sehen. Da haut einer seiner Kunst raus, weil er gar nicht anders kann, überarbeitet, feilt unermüdlich, und das Volk will es sehen. Das BE ist am Samstagnachmittag zur angekündigten Langfassung von „Les Misérables“ voll, die Stimmung hervorragend. Obwohl oder gerade weil alle wissen: Unter acht Stunden kommen wir hier nicht raus.

Es werden dann doch nur sieben und 40 Minuten, dann ist Valery Tscheplanowa als Javert in die Seine gesprungen. Moment mal: Wird der schreckliche Inspektor – der es sich in Victor Hugos Roman zur Lebensaufgabe gemacht hat, Jean Valjean zu jagen, wobei nie ganz klar wird, warum eigentlich – nicht von Wolfgang Michael gespielt? Ja, aber weil der von einer Grippe niedergestreckt ist, leistet Tscheplanowa Heroisches, indem sie seine Rolle auch noch übernimmt, neben der der Fantine, Tochter Cosette und Stiefschwester Eponine. Da genügt ein schwarzer Mantel überm Strasskleid, ein Hut, ein bisschen soufflierte Unterstützung, fertig ist eine neue, jüngere, zornigere Ausgabe von Javert, gefährlicher auch als jene etwas bräsige, immer irgendwie von fiktiven Zigarrenwolken umnebelte, die Michael gespielt hat.

Applaus fürs Durchhalten

„Extended“? Besser wäre „Alternative Version“. Castorf kürzt an manchen Stellen sogar, fügt anderswo Material ein, das nach der Premiere im Dezember zunächst rausgeflogen war, vor allem zu Guillermo Cabrera Infantes Roman „Drei traurige Tiger“. Viele Szenen wirken in sich schlüssiger, konzentrierter gearbeitet. Stärker ausgeprägt ist auch der Strang zwischen Eponine und Marius, gespielt von einem sich erneut restlos verausgabenden Patrick Güldenberg, in dessen weit aufgerissenen Augen, drahtigem Körper, total übertriebener Hysterie sich immer viel Wahres über den Schrecken der Welt zu spiegeln scheint.

So werden Atmosphäre, Vorgeschichte, Bedingung jener beiden Revolutionen, der von Kuba 1959 und der von Paris 1830, enggeführt, assoziativ überlappt, collagiert. Ergebnis sind, wie stets bei Castorf, Strecken bleierner Müdigkeit (wenige!) und Momente großen Theaterglücks. Wie Jürgen Holtz’ gerade wegen seiner brüchigen Stille monumentaler Monolog über die Kloake von Paris. Wie die traurige Hektik der Ankunft von Andreas Döhlers Jean Valjean, der unendlich viel redet und doch nichts sagt, der „einfach nur mal hier sitzen will“, mit der ganzen Welt als seinem erbarmungslosen Gegenüber, symbolisiert in den stummen Mandelaugen von Sina Martens. Wie die wienerische Wuchtbrummigkeit von Stefanie Reinsperger als Mutter Thénardier, die mit der Ruhrpott-Aasigkeit von Aljoscha Stadelmann als Gatten eine unerträglich-unwiderstehliche Mischung eingeht.

Am Ende Jubel, alle applaudieren sich gegenseitig, fürs Durchhalten. Volksbühne am Schiffbauerdamm.

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