„Les Misérables“ am Berliner Ensemble: Kanal voll, Kanal leer
Paris liegt auf Kuba: Frank Castorf quält am Berliner Ensemble „Les Misérables“ nach Victor Hugo.
Erfahrung macht dann auch schmerzresistent. Alte Liebe hilft dabei. Einerseits. Sonst würde man nicht siebeneinhalb Stunden Castorf-Theater aushalten, ohne verrückt oder aggressiv oder willenlos zu werden. Andererseits: Ist es nicht die totale Bankrotterklärung eines Künstlers, wenn es sich nur noch darum dreht, mit der ewig gleichen Technik des Aus- und Niederwalzens radikale Positionen zu behaupten? Wenn es allein ums Durchhalten und Weitermachen geht? Wenn Themen, Stoffe, Figuren bloß noch die Staffage bilden für präsenile Schlaflosigkeit, die sich bei Frank Castorf mit einem unverbrüchlichen jugendlichen Zynismus verbindet?
Halb zwei in der Nacht. Jetzt ist der Moment gekommen, das Theater zu verlassen. Egal wie. Rien ne va plus. Nur raus hier. Doch der Schauspieler Wolfgang Michael, der den zerknautschten, diabolischen Gesetzeshüter Javert mimt, kommt dem Fluchtimpuls des Zuschauers zuvor. Er spricht, tatsächlich, eine Art Schlusswort. Vom Untergang eines Selbstmörders, den das kalte Wasser aufsaugt. Blackout.
Das kann man seinen Enkeln einmal vom hauptstädtischen Theaterkrieg erzählen: Man ist bei Frank Castorfs erster Berliner Inszenierung nach dem Ende seiner Volksbühnenintendanz dabei gewesen: „Les Misérables“ nach Victor Hugo. Im BE. Siebeneinhalb Stunden, echt! In den Knochen stecken noch die Eröffnungsversuche von Chris Dercon, Castorfs Nachfolger am Rosa-Luxemburg-Platz. Es läuft nicht gut. Das Alte will nicht vergehen und das Neue will nicht kommen.
Bilder aus Guantanamo, Filmchen mit Marilyn Monroe
Ob Film, ob Musical: Victor Hugos gewaltiges Romanwerk, 1862 erschienen, steht Plünderern offen. Liebe und Revolution, Knast und Leidenschaft, der Kampf zweier Männer, Barrikaden und Gangster, Prostitution und Idealismus, Verbrechen und Strafe, Edelmut und Niedertracht, da ist alles drin. Wie bei Dostojewski. Dessen Bücher hat Castorf immer wieder ausgeweidet, zuletzt die „Brüder Karamasow“ an der Volksbühne.
Die Welt ist Castorf nicht genug. Darum verschneidet er Hugos Paris mit dem vorrevolutionären Kuba. Bekommt der Franzose Stücke aus dem Roman „Drei traurige Tiger“ von Guillermo Cabrera Infante übergeholfen. Karibische Musik, spanische Ladenschilder, Voodoo-Rituale. Bilder aus Guantanamo, Filmchen mit Marilyn Monroe, und im Ladenfenster hängt ein Porträt von Fidel Castro. Der war ja für seine ausufernden Reden berühmt.
Bitter, wie Castorf mit Jürgen Holtz umgeht
Aber wie still, zu still beginnt Fidel Castorfs Wälzer-Abend im Berliner Ensemble. Der alte Jürgen Holtz hockt im Dunkeln und spricht einen Text über die Pariser Kanalisation. Ratten und Gestank, Untergrund. Damit man weiß, wo man ist. Nur ist er schlecht oder gar nicht zu verstehen, weiter hinten im Zuschauerraum und im Rang. Bitter, wie Castorf mit diesem großen Mann des Berliner Theaters umgeht. Erst als der mobile Videotrupp anrückt, mit Kamera und Mikrofon, dringt Holtz’ Stimme durch. Das gilt auch für Valery Tscheplanowa: mal mit, mal ohne Mikroverstärkung. Mal drinnen im Drehbühnenbild von Aleksandar Denić, mal draußen. Aber immer behält sie ihre schauspielerische Persönlichkeit, was nicht von allen in diesem Gewusel gesagt werden kann. Anderes Beispiel: Andreas Döhler. Einen starken Auftritt hat er, dieser gute, kräftige Mensch von der Seine, Jean Valjean. Und dann ab in den Strudel, aus dem er gelegentlich wie ein langsam Ertrinkender wieder auftaucht.
Peinlicher Altmännerstil
Kreischen, kriechen, zappeln, zerren. Eine Brüllerei, Stunde um Stunde. Sie hängen aneinander wie nasse Säcke. Rennen herum wie in einer explodierten Boulevardklamotte, hingerotzt. Tribunal und Nummernrevue, Zitatenstapelei und Stummfilmparodie: Man muss eigentlich nur Textbausteine aus älteren Kritiken hervorholen – und fertig. Nur dass diese Castorf’schen Kultveranstaltungen zunehmend unbeholfen aussehen, hölzern. Und die Rollenklischees haben schon lange ihre Leichtigkeit verloren: die Frauen hysterisch und nuttig, knapp bekleidet, die Männer nervös und doch irgendwie obenauf. Peinlicher Altmännerstil!
Was das mit Victor Hugo und dem 1500-Seiten-Roman zu tun hat, ist eine sekundäre Frage. Denn wo wäre der Unterschied zu einer Romanüberspielung von, sagen wir, Céline oder Malaparte? Das haben wir auch schon alles durch mit ihm. Das Chaos hat immer nur einen anderen Namen. Erzählt wird nichts. Figuren sind nur äußerlich erkennbar. Die Welt ist scheiße, der Mensch nichts wert, kein Gott ist nirgends, Liebe ist nur eine Last, und dann kommt es auch nicht mehr darauf an, ob Frank Castorf ein guter oder schlechter Regisseur ist. Es ändert nichts. Vielleicht ist er ja gar kein Regisseur, sondern ein Arrangeur des Grauens.
Die Hüllen sind leer, die Larven erschöpft
Und doch: Siebeneinhalb Stunden wollen durchlebt sein. Womit? Wenn Theater auf eine solche Länge ausgeht, hatte es stets eine Botschaft. Richard Wagner, Paul Claudel, Oberammergau, die Atriden-Trilogie, die Königsdramen Shakepeares: Diese Welterfinder und Weltspektakel errichten Gebäude, postulieren Glauben, wälzen sich durch die Historie. Castorfs pure Negativität erschöpft sich auch nicht in einer endlosen Reise ans Ende der Nacht. Warum nur siebeneinhalb Stunden? Und reichte nicht umgekehrt eine lange Stunde aus, da man ohnehin nichts versteht und auch nichts verstehen soll?
Es bestand die Hoffnung, dass der Rauswurf aus der Volksbühne – so sehen es die Castorfianer – ihrem Chefregisseur einen Schub gäbe. Dass es ein schlauer Zug von Oliver Reese war, dem neuen Intendanten des Berliner Ensembles, Castorf eine neue Bühne zu eröffnen, das gute alte Brecht-Haus. Er hat ja in der Wendezeit, als Stücke ihn noch interessierten, Ibsen zum Beispiel, auch schon am Deutschen Theater gearbeitet. Jetzt zeigt uns der alte Dialektiker: Castorf ist Berlin. Die Hüllen sind leer, die Larven erschöpft, die dramatischen Gebäude dekonstruiert.
Man sehnt sich nach einem guten Gespräch, einer Flasche Wein
Auf die Gefahr hin, Castorfs Einfluss erneut zu überschätzen: Der große befreiende Spaß, der sein Theater einmal war, mit all den wunderbaren Schauspielern damals, hat einen verdammt hohen Preis. Oliver Reese spürt das, wenn er die Rückkehr des Schauspielertheaters und des well made play verspricht, worauf ja viele warten. Chris Dercon spürt es, der die Situation komplett verpeilt hat. Oder wie es Frank Raddatz im Programmheft zu „Les Misérables“ so klar wie einfach ausdrückt: „Wo Bedrohungsszenarien an die Stelle von Erwartungshorizonten treten, eine stetig anwachsende Gegenwart das Gewesene überwölbt, manifestiert sich die Kraft dieser Kunst, die Dominanz und Immanenz einer ewigen Gegenwart zu unterminieren und in Räumen der Erinnerung das Gegenwärtige wie die verlorene Zukunft zu aktualisieren.“
Gewiss, aber: welche Kunst? Und welche Kraft? Siebeneinhalb Stunden „ewige Gegenwart“ werfen die Frage auf, ob man seine Lebenszeit grundsätzlich nicht anders gestalten sollte. Hier geht man (Castorf! Wichtig!) ins Theater, fühlt sich miserabel und sehnt sich nach einem guten Gespräch, einer Flasche Wein oder einer Oper. Denn das lässt sich nicht übersehen: Frank Castorf scheint nach Sängern zu suchen, wenn er seine Schauspieler all die Sachen machen lässt, die auf einer Opernbühne gut aussehen könnten, weil dort die Musik dagegenhält. So aber, in der Hugo-Havanna-Lounge, leistet nichts und niemand Widerstand, gibt es kein Echo.
Es hat verdammt lang gedauert, dass sich dieser Regisseur entzaubert. Eigentlich hatten wir diesen Punkt auch schon einmal erreicht, vor fünf oder zehn Jahren; da war das Chaos aufgebraucht. Nur hat keiner geahnt, wie groß die Mühen sein würden und wie endlos lang der Weg über die Ebenen, da man die eigene Lebens- und Theatergeschichte mit sich trägt. Eine Szene, eine einzige, hallt erschütternd nach aus siebeneinhalb Stunden Lebenskraftraub: Wie Jürgen Holtz, der 85-jährige, im Priestergewand niederkniet vor einem jungen Mann und ihn um seinen Segen bittet.
Wieder am 3., 15., 16. 28. u. 29. Dezember
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