Die Zombies im Haus der Kulturen: Mehr Liebe wagen
Mehr 1968 war selten: Die Zombies führen am Haus der Kulturen ihr epochales Album „Odessey and Oracle“ auf.
Die Botschaft lautet: mehr Liebe wagen. Als die Sonne malerisch in der Spree versinkt, stehen drei ältere Herren hinter ihren Mikrofonständern und singen: „I love you, I love you, I love you, yes I do“. Die gewölbte Betonfassade des Hauses der Kulturen der Welt reflektiert die rötliche Abenddämmerung, und die Scheinwerfer auf der Bühne davor tauchen die Köpfe der Sänger in rotes, blaues, grünes Licht. Ihre Haare changieren zwischen Grau und Gerhard-Schröder-Schwarz, doch der Song, eine B-Seite aus dem Jahr 1965, handelt von den Nöten eines Pubertierenden, dem das Verliebtsein die Sprache verschlagen hat. Der Bass pulsiert wie ein Herz kurz vorm Infarkt, die Orgel glüht, der Gesang lodert: „I love you, but the words won’t come.“ Man muss die Liebe einfach rauslassen. Bloß wie?
Sie sind noch hungrig
Die Zombies sind nach Berlin gekommen, um beim Wassermusik-Festival des Hauses der Kulturen ihr epochales Album „Odessey and Oracle“ aufzuführen, das vor fünfzig Jahren die Popwelt verändert hat, ohne dass die Welt davon zunächst allzu viel mitbekam. Aber erst einmal spielen sie, durchaus rumpelig, ein paar noch ältere Stücke wie die Teenagerhymne „I Want You Back Again“ oder Bo Diddleys Bluesklassiker „Road Runner“ und Titel ihrer letzten Langspielplatte „Still Got That Hunger“, mit der sie, wie Keyboarder Rod Argent stolz anmerkt, noch einmal die Top 100 der Billboard- Charts geknackt haben.
Rod Argent wirkt mit seiner Sportlerfrisur und den muskulösen Oberarmen im schwarzen T-Shirt wie eine vitalere Zweitversion von Roger Waters, doch sein Enthusiasmus wird vom Sänger Colin Blunstone noch übertroffen. Blunstone, ein ewiger Hippie in schwarzer Lederjacke, hört kaum einmal auf zu lächeln, öffnet seine Arme immer wieder zu Weltumarmungsgesten und legt das Vibrato eines jungen Tenors in seinen Gesang. Manchmal flattert die Stimme ein wenig.
Die Zombies wurden 1961 in der südenglischen Stadt St Albans gegründet, die 35 Kilometer von London entfernt ist, klingen aber eher amerikanisch, genauer gesagt: kalifornisch. Ihre mehrstimmigen Gesänge, die Melodieseligkeit und vertrackten Arrangements erinnern an die Beach Boys und die Turtles. Allerdings wich ihre sonnendurchflutete Naivität, ähnlich wie bei den Beach Boys, je mehr sich die sechziger Jahre verdunkelten, desto stärker komplexeren und hintergründigeren Kompositionen.
Ein fehlendes Ypsilon
Womit wir bei 1968 angekommen wären, dem Jahr der Revolte. Dass „Odessey and Oracle“ damals kaum beachtet wurde, war eine Folge schwerer Marketingversäumnisse. Der Titel ist falsch geschrieben, „Odessey“ hat ein E statt eines Ypsilons, was an einem Rechtschreibfehler des Covergestalters lag. Schwerer wog, dass sich die Band bereits wieder aufgelöst hatte, als die Platte im April 1968 in die Läden kam. Frustriert vom mangelnden Erfolg früherer Veröffentlichungen hatten die Songwriter Rod Argent und Chris White das Projekt Argent gestartet, dem ähnlich wie Blunstones Soloalben allerdings auch kein großes kommerzielles Glück beschert wurde.
Auf dem Dachgarten der Berliner Kongresshalle haben sich die vier noch lebenden Gründungsmitglieder der Zombies – Argent, Blunstone, Bassist White und Drummer Hugh Grundy – mit fünf weiteren Musikern verstärkt. Song für Song, Note für Note spielen sie das „Odessey“- Album nach, und lassen die Stücke dabei so überschwänglich und frisch klingen, als wären sie gerade erst geschrieben worden. Beim Auftaktstück „Care of Cell 44“ schälen sich frenetische Doo-Wop-Chöre aus dem Beat. Die Ballade „A Rose for Emily“, das „Eleanor Rigby“ der Zombies, erzählt zu Klavierakkorden von einer Frau, die niemals Blumen bekommt, nicht einmal auf ihrem Grab. Und bei der Liebesschmerzhymne „Tell Her No“ singen die Zuhörer stammelnd den Refrain mit: „No-no-no-no“.
Von Verdun nach Vietnam
„Odessey and Oracle“ entstand gleich nach „Sgt. Pepper’s“ in den Abbey Road Studios, die Band benutzte dabei sogar John Lennons Mellotron. Die Platte ist ein Solitär, vergleichbar mit dem Beatles-Klassiker, mit „Pet Sounds“ von den Beach Boys und dem Pink-Floyd-Debüt „The Piper at the Gates of Dawn“. In den Texten ist von Sommerbrisen, einer Sommerkrone und Sommerliebe die Rede, die Barockgrößen Bach und Pachelbel werden zitiert, doch die Stimmung kippt ins Unheilvoll-Psychedelische. Als Chris White, begleitet nur von Leierorgelklängen, die Antikriegsmoritat „Butcher’s Tale“ über die Schrecken der Westfront von 1918 anstimmt, fällt einem auf, dass Verdun mit demselben Buchstaben beginnt wie Vietnam. Es folgt die fingerschnipsend-coole Tanzkelleroffenbarung „Time of the Season“. Der Sommer, das ist die Jahreszeit der Liebe.
Die einzige Zugabe dieser großartigen Nacht gilt einer Abwesenden: „She’s Not There“. In Angela Merkels Arbeitszimmer, schräg gegenüber vom Dachgarten im Kanzleramt brennt schon lange kein Licht mehr.
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