50 Jahre „Sgt. Pepper“ von den Beatles: Löcher in der Marmelade
Als Pop zum Gesamtkunstwerk wurde: Vor 50 Jahren veröffentlichten die Beatles ihr vor Ideen überquellendes Album „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“.
Vor fünfzig Jahren, im Sommer 1967, übernahm der Wahnsinn endgültig die Macht. „I read the news today, oh boy“, so hebt der Song an, der zu einer stoischen Akustikgitarre und schäumenden Klavierakkorden ein Lebensgefühl aus Euphorie, Resignation und Paranoia heraufbeschwört. Ein Millionär ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die englische Armee hat gerade den Krieg gewonnen. Und in Blackburn, Grafschaft Lancashire, wurden 4000 Schlaglöcher gezählt.
Wobei es sich, wird beteuert, um „wirklich sehr kleine Löcher“ handelt. Wie viele Löcher würde man brauchen, um die Royal Albert Hall in London zu füllen? Um Substanz in Nichts zu verwandeln, die ganze Hochkultur einzulochen? John Lennon singt das mit weicher, ein wenig müder Stimme. Mittendrin klingelt ein Wecker, der Ringo Starr daran erinnert, dass jetzt sein Schlagzeugspiel einsetzen muss, und Paul McCartney übernimmt für acht Zeilen den Leadgesang. Die Fünfminutensinfonie „A Day in the Life“ endet im spiralförmigen Klanggestäube eines vierzigköpfigen Orchesters und in einem gewaltigen, von drei Klavieren erzeugten Schlussakkord.
Es ist gleichzeitig das Finale des Albums „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“, das in Großbritannien am 26. Mai und in Deutschland am 1. Juni 1967 erschien. „Niemals hatte man etwas gehört, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit Sgt. Pepper hatte“, erinnerte sich später der Produzent George Martin. „Die Platte war eine musikalische Splittergranate.“ Es war die Zeit, in der amerikanische B-52-Bomber täglich 800 Tonnen Sprengladung über Nordvietnam abluden. Den westlichen Jugendlichen blieb nur der Fluchtweg in immer härtere Drogen. „I’d love to turn you on“, säuselt Lennon mit verstrahlter Stimme. Damals war der Sänger auf Marihuana und LSD, ein Jahr später sollte er beim Heroin landen.
Nie waren die Beatles wagemutiger und experimenteller
Der Schlussakkord von „A Day in the Life“ hallt bis heute nach. „Sgt. Pepper“, so heißt es, ist die Platte, mit der Pop endgültig erwachsen geworden ist. Auf dem vom Pop-Art-Collagekünstler Peter Blake und dem Fotografen Michael Cooper gestalteten Cover posieren die Beatles in Fantasieuniformen auf einem Pappfigurengruppenbild mit Seelenverwandten wie Karl Marx, Bob Dylan, Mae West oder Johnny Weissmüller. Die Vorgänger-Veröffentlichungen „Rubber Soul“ und „Revolver“ mögen die besseren und geschlosseneren Pop-Platten sein.
Aber nie waren die Beatles wagemutiger, selbstvergessener und experimenteller als bei der Arbeit an „Sgt. Pepper’s“. Bis heute sind die Fans damit beschäftigt, die Referenzen des vor Ideen überquellenden Werks zu identifizieren und auszudeuten. Kann es sein, dass die „four thousand holes in Blackburn“ von Lennons „A Day in the Life“ subkutan in Verbindung stehen mit dem Loch in McCartneys Gute-Laune-Song „Fixing a Hole“, das von George Martin an einen lieblich schnurrenden Cembalo begleitet wird. Es gehe dabei um Heimwerkerarbeiten in seiner schottischen Farm, nicht um Heroin, hat der Sänger versichert.
Aber glaubt tatsächlich irgendjemand, dass „Lucy in the Sky with Diamonds“, Lennons zweites Jahrhundertstück auf der Platte, nichts mit der Abkürzung LSD zu tun hat, sondern eine Kinderzeichnung von Lennons Sohn Julian beschreibt? Exakter als in der sphärisch schlingernden, fransig verhallten Ballade war die Wirkung des Halluzinogens bis dahin nicht beschrieben worden, Sprechverlangsamung, Marmeladenhimmel und Kaleidoskopmädchen inklusive. Stell dir vor, wird der Hörer aufgefordert, du sitzt in einem Boot auf einem Fluss: „With tangerine trees and marmalade skies / Somebody calls you, you answer quite slowly.“ Eine Einschiffung ins Glück. Gelangt man nicht auch in Alices Wunderland durch ein Loch, eines, das von einem Kaninchen gegraben wurde?
Zum Goldjubiläum eine Doppel-CD mit Frühversionen
„Sgt. Pepper“ ist das Produkt eines Überbietungswettbewerbs. Die Beach Boys hatten ein Jahr zuvor, im Mai 1966, ihr Meisterwerk „Pet Sounds“ herausgebracht, auf dem neben Hundegebell, Zuggeräuschen und klappernden Löffeln auch unerreichte Pop-Denkmäler wie „God Only Knows“ zu hören sind. Bandgenie Brian Wilson versicherte, das „größte Rockalbum aller Zeiten (GröRAaZ)“ komponiert zu haben.
GröRAaZ? Das können wir besser, dachten sich die Beatles und zogen sich für fünf Monate in die Londoner Abbey Road Studios zurück. Die Aufnahmehallen des Plattenlabels EMI wurden für die vier Musiker, konstatierte George Martin, zum „Vergnügungspark“. Allein die Aufnahme von „A Day in the Life“ verschlang fünf Tage, eine Zeitspanne, in der die Beatles einst ganze Alben eingespielt hatten. Dem Produzenten gelang es immerhin, für das 24-taktige Zwischenspiel, den „sinfonischen Orgasmus“ (Martin) des Songs, statt der verlangten 80 bloß 40 Mitglieder des London Symphony Orchestra ausleihen zu müssen. Live war diese Musik nicht mehr reproduzierbar. Die Beatles hatten angekündigt, ohnehin nie mehr auf Tour gehen zu wollen.
Zum Goldjubiläum hat die EMI eine Doppel-CD veröffentlicht, die neben dem originalen „Sgt. Pepper“-Album auch Frühversionen, Instrumentals und Alternativfassungen enthält. Mit ihnen kann man der Band gewissermaßen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Das Titelstück beginnt mit harten Gitarrenakkorden, McCartneys frenetischer Jahrmarktsanpreisung „We hope you will enjoy the show“ und beinhaltet hippieeske „Be free now“- Gesänge.
Eine Zeit, die noch fest an den Fortschritt glaubte
Das Freundschaftslied „With a Little Help From My Friends“ muss noch ohne den Gesang von Ringo Starr auskommen. „Within You Without You“, die einzige Komposition von George Harrison auf der Platte, klingt, gesanglos und allein von indischen Instrumenten wie Sitar, Tabla und Tanpura getragen, noch psychedelischer. Und der auf ein Gitarre-Klavier-Gerüst abgespeckte erste Take von „A Day in the Life“ endet völlig unsinfonisch mit einem gemeinsam gebrummten „Ommm“. Der Zirkusdirektor des Studiospektakels, George Martin, hat zuvor alle 24 Takte angezählt. Oh boy.
„Uns wurde immer wieder gesagt: Mit dieser Platte werdet ihr alle eure Fans verlieren“, erinnert sich Paul McCartney in einem Interview mit dem britischen Musikmagazin „Mojo“. „Wir haben geantwortet: Wir werden vielleicht ein paar Fans verlieren, aber mehr neue dazugewinnen. Wir müssen vorankommen und können uns nicht aufhalten lassen, um alte Erwartungen zu erfüllen.“ Es war eine Zeit, die noch fest an den Fortschritt glaubte. 1967 ist, wie ein vor Kurzem herausgekommener Sammelband des Wagenbach-Verlags behauptet, das „Schaltjahr des Pop“. Warum?
Die Musik fing gerade erst an sich zu verwandeln. Und keine andere Band durchlief schneller die Stadien ihrer Transformation als die Beatles: vom Skiffle übers Bluesepigonentum und den Beat zu Psychedelik und Popsymphonien. Die übernächste Veröffentlichung, das „White Album“, würde schon von der sich ankündigenden Auflösung geprägt sein. Da sind vier großartige Pop-Avantgardisten zu hören. Aber kaum noch eine Band. I read the news today, oh boy.
Die Anniversary Edition (2CDs) von Sgt. Pepper ist bei EMI/Universal erschienen. Im Reclam Verlag Stuttgart kam das Buch Sgt. Pepper. 100 Seiten von Peter Kemper heraus (10 €).