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Natürliche Daseinsform. Leonard Bernstein mit Zigarette in der Hand, 1977 in Paris.
© dpa/Horst Ossinger

Zum 100. Geburtstag: Leonard Bernstein, der große Liebende

Geselligkeit war seine natürliche Daseinsform: Leonard Bernstein war ein Dirigent, der die Menschen um sich brauchte. Der Maestro war gern im Gewühl.

„Ich will Musik schreiben. Ich habe genug von Wien. Ich denke, ich habe auch genug vom Dirigieren.“ Stoßseufzer wie dieser, den Leonard Bernstein 1972 an seine Schwester Shirley schickte, entfuhren dem damals längst weltbekannten Musiker immer wieder. In ihnen blitzt ein Konflikt auf, der ihn mit Gustav Mahler verbindet. Dessen Werke erlebten durch Bernsteins emphatischen Einsatz in den 1960ern eine Renaissance und wurden zum ersten Mal überhaupt populär.

Dass Bernstein den Taktstock dennoch nie hingeworfen hat, liegt in der Persönlichkeit dieses Multitalents begründet. „Sicher weißt du noch genau, was meine größte Schwäche ist – meine Liebe zu den Menschen“, schrieb er an einen Ex-Kommilitonen. „Ich brauche sie ständig, jeden Augenblick.“ Das Komponieren aber braucht Ruhe und Abgeschiedenheit, Zustände, die für Bernstein das Grauen waren, in denen er fürchtete, den Depressionen anheimzufallen, unter denen schon seinen Vater gelitten hatte. Während Karajan eine Hälfte des Restaurants absperren ließ, um ungestört essen zu gehen, war für Bernstein der Austausch auf einer Party die natürliche Daseinsform, Zigarette und Scotch immer zur Hand.

Und was ist ein Konzert schon anderes als geteilter Genuss, die Fortsetzung jenes Flirtens, Umarmens und Küssens, das für Bernstein selbstverständlicher Ausdruck von Neugier und Lebenslust war. Legendär das Telegramm, das ihm ein Freund vor der Papstaudienz kabelte: „Denk dran: Küss den Ring und nicht die Lippen.“ Dirigiert hat „Lenny“, der heute vor 100 Jahren als Louis Bernstein in Lawrence, Massachusetts, geboren wurde, schon als Jugendlicher. Wenig später machte er die Granden des amerikanischen Musiklebens auf sich aufmerksam, die allesamt aus Europa geflohen waren. Als Bruno Walter im November 1944 ein Konzert mit den New York Philharmonikern absagte, sprang der junge Assistent ein und brillierte aus dem Stand in der landesweit ausgestrahlten Aufführung.

Bernsteins rasante Auffassungsgabe, seine charismatische Autorität am Pult ließen ihn früh glänzen. 1953 dirigierte er als erster Amerikaner an der Scala, 1958 wurde er als erster Amerikaner Chefdirigent des New York Philharmonic – und damit ein Nachfolger Mahlers.

Man musste Bernstein beim Dirigieren sehen

Eine rastlose Zeit beginnt, Bernstein komponiert, avanciert mit seinen „Young People’s Concerts“ zum Musiklehrer der Nation, hält umwerfend eloquente Lectures an der Harvard University (auf CD erschienen bei Sony). Er erarbeitet sich als Dirigent ein ungeheures Repertoire, erfindet neue Konzertformate, nimmt im Studio Platten auf. Sein erster Zyklus der Mahler-Symphonien entsteht, der beim Wiederhören (alle Columbia-Aufnahmen sind neu bei Sony herausgekommen) einen lebendigeren Eindruck hinterlässt als die späten Live-Aufnahmen seiner zweiten Gesamteinspielung.

Interessant: Diese Mahler-Abenteuer entstanden, ohne von Bruckner inspiriert zu sein oder Begeisterung für dessen Werk zu entfachen. Im Gegenteil: „Finde Bruckner unnötig langweilig, ohne Persönlichkeit, linkisch & stumpfsinnig, hinter einer Maske der Feierlichkeit“, notierte Bernstein. Nur der Aura der Neunten konnte er sich nicht ganz verschließen, sie wurde eine seiner letzten Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern, live. Eigentlich trachtete sein ganzes Spätwerk, der Abgeschlossenheit des Studios zu entkommen.

Seine Plattenfirma war inzwischen dieselbe, für die auch Karajan aufnahm: Deutsche Grammophon. Sie hat ihren Bernstein-Schatz jetzt in einer Gedenkschatulle gebündelt. Neben 121 CDs dokumentieren 36 DVDs sein Wirken am Pult. Die Filme stammen aus der Kooperation mit Leo Kirchs Unitel, die von 1971 bis zum Tod des Dirigenten 1990 knapp 200 Konzerte auf 35 Millimeter festhielt. Bernstein zu sehen, war ein entscheidender Teil davon, seine Auffassung von Musik nachempfinden zu können.

Der Maestro zeigte sich gerne mitten im Gewühl, während der Antipode in Berlin mit geschlossenen Augen dirigierte, als wolle er der Nachwelt Modell sitzen. Bernstein aber konnte nicht stillhalten, obwohl er im reiferen Alter langsamere Tempi anschlug, mehr Raum für Aura schuf. „Ich habe kein Interesse an einem Orchester, das nach sich selber klingt. Ich will, dass es nach dem Dirigenten klingt.“

Daran mussten sich die Wiener Philharmoniker erst gewöhnen. Nachdem Bernstein ihnen zunächst keine Ahnung von Mahler attestiert hatte, wurden sie zum festen Partner seiner späten Jahre.

Im Orchestergraben fühlte er sich nie wohl

Er besitzt die Gabe, das Scheinwerferlicht auf sich zu ziehen und es großzügig zu reflektieren. Um ihn herum beginnen Musiker und Zuhörer zu leuchten. Auf seinen besten Aufnahmen kann man das auch hören, bei anderen fehlt es – deutlich bei dem Auftritt im Konzerthaus zu hören, den Bernstein 1989 als „Ode an die Freiheit“ dirigiert. Die Tempi sind so breit, dass der Geist der Geschichte durch alle Noten wehen kann – ein Zeitdokument, nicht der Gipfel von Bernsteins lebenslanger Begeisterung für Beethoven. Hingegen ist die Aufnahme von Strawinskys „Sacre“ mit dem Israel Philharmonic selbst nach Rattles Berliner Zuspitzung von ungebrochen magnetischer Kraft.

Für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Oper fehlte es Bernstein an Zeit, obwohl er selbst großer Musikdramatiker war. Vielleicht lag es auch daran, dass ein Orchestergraben kein adäquates Raumangebot für jemanden wie ihn darstellte. Dietrich Fischer-Dieskau verdankt Bernstein seine witzigste Einspielung, den gemeinsamen „Falstaff“ von 1966 (erschienen in der Box „Leonard Bernstein Edition – The Vocal Works“, Sony). Hier haben sich zwei gefunden, die sich für Musik und Sprache gleichermaßen begeistern. Fischer-Dieskau wollte danach unbedingt weitere Opern machen, hoffte Bernsteins Kurwenal in Bayreuth zu werden. Doch dort hat er nie dirigiert, obwohl er von einem „Tristan“ mit Ingmar Bergman auf dem Grünen Hügel träumte

Seinen Wagner-Rausch erfüllte er sich schließlich in München mit dem BR-Symphonieorchester. Das Vorspiel dehnt sich scheinbar endlos aus, strömt aus einer tiefen Quelle, lässt sich nicht festhalten. Der todkranke Karl Böhm besuchte eine Probe und sprach Glückwünsche aus. Doch die „Tristan“-Aufnahme hält dem Anfang nicht stand, die Sänger agieren unglücklich jenseits aller Magie.

Eine seiner Lieblingsaufnahmen, gestand Bernstein, sind die späten Streichquartette von Beethoven in einer Fassung für Streichorchester mit den Wiener Philharmonikern. Letzte Dinge, liebevoll und bestimmt herausgehoben aus ihrem intimen Rahmen. Typisch „Lenny“. Unmittelbar vor seinem Tod sagte er: „Ich muss mich ausruhen, ich bin alt, müde und krank, doch glauben Sie mir, ich habe dieser Welt noch eine Menge zu sagen!“

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