Dietrich Fischer-Dieskau: Allein auf weiter Flur
Das Lied war seine Weltdomäne, das Kunstlied. Dietrich Fischer-Dieskau setzte Maßstäbe: Alle, die nach ihm kamen, sangen wie er, sie konnten gar nicht anders. Zum Tod des größten deutschen Sängers der Nachkriegszeit
Die vielleicht schönste Geschichte über Dietrich Fischer-Dieskau hat seine Frau, die Sängerin Julia Varady, einmal erzählt. Sie handelt von ihrer ersten Begegnung und spielt 1973 an der Bayerischen Staatsoper in München. Giacomo Puccinis Einakter „Il tabarro“ (Der Mantel) steht auf dem Probenplan, Fischer-Dieskau gibt den Schiffer Michele, Varady die Giorgetta. Zur Begrüßung der jungen Kollegin erhebt sich Dieskau, ganz Gentleman, und wird, so schildert Varady es in ihrer Erinnerung, länger und länger und immer noch länger – „wie eine Tanne so hoch“.
Dieskau überlebensgroß, ein Riese, ein Hüne seines Fachs, ein Monolith, womit sich das epitheton ornans vom „großen Sänger“ auch endlich einmal leibhaftig bewahrheitet hätte. Dabei ist „der Dieter“, wie ihn seine Freunde nannten, in der Oper vielfach nicht recht glücklich und heimisch geworden. Seine Weltdomäne war das Lied, das deutsche Kunstlied. Darin ist er erst recht wie ein märchenhaftes Nadelgewächs so groß und so hoch.
Was für ein Bild.
Die Tanne: aufrecht, dunkel, mit fedrig ausschwingenden Ästen und einem oft Furcht einflößenden Radius. Im Schatten einer solchen Holzes gedeiht nicht viel. Und das war und ist das Problem. Allerdings weniger Fischer-Dieskaus Problem als das so ziemlich aller anderen, seiner Konkurrenten, Epigonen und Nachfolger. Wer bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein Lieder gesungen hat, Kunstlieder, der sang, ob er wollte oder nicht, wie Dieskau. Wer sich mit der romantischen Selbstvergewisserungsdrangsal, den Herzländern und blauen Blümelein eines Schubert, Schumann, Brahms, Hugo Wolf oder Richard Strauss beschäftigte, der hatte unweigerlich Dieskau im Ohr und, als sei dies nicht genug, auch vor der Nase. Denn die, die unten im Saal saßen, hatten auch alle Dieskau im Ohr, wen sonst, die Stimme der Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahre, seine „Winterreise“, seine „Dichterliebe“. Seit ein paar Jahren erst verblasst diese Schablone: Weil Dieskau schon länger nicht mehr unterrichtete; und weil das Liedersingen doch eklatant aus der Mode gekommen ist.
Vieles hat der gebürtige Berliner gleich mehrfach auf Platte eingesungen. Und wahrscheinlich gibt es nichts, was er für sein Stimmfach, den lyrischen Bariton, nicht aufgenommen hätte, von Bach bis Henze, von Mozart bis Rihm, flächendeckend, in immer neuen schmucken Kassetten und Kompilationen. Als gelte es, die Nation in Sachen Fischer-Dieskau stets auf dem Laufenden zu halten. Als sei es ihm um ein Vermächtnis zu Lebzeiten gegangen. „FiDi“ nannten ihn seine Fans, das klingt lustig, fast niedlich, wie ein eigenes Label und jedenfalls gar nicht nach einer finsteren Tanne.
Dietrich Fischer-Dieskau wurde am 28. Mai 1925 in Berlin in eine großbürgerliche, Musik liebende Familie hinein geboren. Die Eltern – der Vater ist Altphilologe, die Mutter Lehrerin – fördern das Talent ihres Sohnes, mit 16 erhält er ersten Gesangsunterricht. Dann wird der pausbäckige Junge zur Wehrmacht eingezogen und gerät in Italien in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im Lager gibt er seine ersten Konzerte, wieder zuhause debütiert er 1948 an der Städtischen Oper Berlin (der heutigen Deutschen Oper) und singt für den RIAS seine erste „Winterreise“. Eine Sensation. Da steht plötzlich ein blutjunger Mann und Mensch, der den geistig ausgehungerten, seelisch vielfach gebrochenen Nachkriegsdeutschen in seinem heiligen Kunst-Ernst eine neue alte Heimat zu geben vermochte! Und was für eine helle, weiche, Töne wie Vokale wie Konsonanten streichelnde, ja liebkosende „Oboen- Stimme“! Was für ein Versprechen.
Als einer der Ersten habe Dieskau, so schrieb Joachim Fest zum 60. Geburtstag des Sängers, den Deutschen wieder „Ahnungen des Endgültigen“ vermittelt. Rasch macht der Berliner eine Weltkarriere, Salzburg, Bayreuth, New York, Wien, London, Japan. Mehr als 40 Jahre lang steht er auf der Bühne, 3000 Lieder hat er im Repertoire, 400 Schallplatten tragen seinen Namen. Und selbst als er 1992 seine aktive Sängerlaufbahn beendet, ist noch lange nicht Schluss: Fischer- Dieskau malt, ediert und schreibt Bücher (das letzte 2009 über seine Begegnungen mit dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler, „Jupiter und ich“), tritt als Sprecher auf, heimst weiter Preise ein und äußert sich gern kritisch zu den künstlerischen Gepflogenheiten der Gegenwart. Julia Varady ist seine vierte Frau, die zweite war die Schauspielerin Ruth Leuwerik.
„Wenn ich mich nicht mehr ausdrücken könnte, dann wäre ich sicher längst tot“, sagt er 2005 im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Und schickt, ob man’s hören will oder nicht, gleich einen seiner Kassandra-Rufe hinterher: „In der Übergangszeit, in der wir heute leben, gehen die Leute immer noch ins Konzert und in die Oper, aus Gewohnheit oder Anhänglichkeit. Oft aber kooperieren sie nicht mehr. Sie sitzen da, aber sie nehmen nicht mehr kreativ am künstlerischen Geschehen teil. Sie arbeiten nicht mit. Und das hat dann im Grunde keinen Zweck.“
Vielleicht kann Dieskau nur wirklich verstehen, ja lieben, wer ihn noch im Vollbesitz seiner Kräfte gehört hat. Die Platten bleiben eben doch Konserven, Blaupausen einer Jahrhundertleistung – und nicht diese selbst. In seiner frühen „Dichterliebe“ von 1957 singt „FiDi“ das erste Lied, „Im wunderschönen Monat Mai“, mit eben jenem „Oboen-Timbre“, das wenige Jahre zuvor seinen Weltruhm begründen half. Die Klimax der musikalischen Phrase bei Wörtern wie „aufgegangen“ und „Verlangen“ krönt er hier mit einem Decrescendo, das so knisternd erotisch wie fromm und keusch und juvenil daherkommt, ein Meiden und Meinen zugleich, wie es stimmlich vollendeter, seidiger und schöner wohl selten geglückt ist. Eigentlich nie.
Bei Dieskau, so formuliert es Daniel Barenboim, der als Liedpianist und Dirigent seit 1969 mit ihm konzertiert hat, sei es immer ums Leben gegangen: „Er hat mit hoher Intensität unglaublich spontan auf alles reagiert.“ Sätze – Dieskau selbst würde sagen „Kernsätze“ –, die erstaunen. Weil sie für viele, die den Sänger lediglich in seiner Spätphase erlebt haben, in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren also, kaum in Einklang zu bringen sind mit dem gängigen, mutmaßlich ungerechten Dieskau-Bild, dem eigenen, widersprüchlichen Dieskau-Gefühl: Da ist ein Sänger, der das Wort im Lied derart radikalisiert, der so messerscharf deklamiert und artikuliert, dass es einem ums eigentliche Singen, um den Fluss und Überfluss des Herzens, fast angst und bange wird. Da ist ein Musiker, der so viel weiß über die Musik und das Musikmachen, dass der Weg hinunter vom inneren Katheder ihn offenbar immer weniger interessiert. Und da ist ein Künstler, der derart einzigartig in seiner Zeit steht, dass er früher oder später anfangen musste, sich selbst zu stilisieren – in Ermangelung anderer, zumindest gleichwertiger ästhetischer Maßstäbe.
Fischer-Dieskau, sagt die Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender, eine halbe Generation jünger, habe sie fasziniert, weil er „das nackte Gegenteil“ von ihr selbst gewesen sei: „Wo ich als junge Sängerin oft großzügig gehudelt habe, da hat er akribisch getüftelt.“ Und dabei hat er sich nicht alles Rauschhafte, Selbstvergessene, Augenblickshafte versagt? „Dieskau hat sich nie auf sich selbst verlassen wollen. Er war ein Souverän, ohne die Souveränität jemals für sich in Anspruch zu nehmen. Ein unermüdlich Lernender, hoch Sensibler. Konsequent kompromisslos in allem, was er getan hat. Einer, der eine Lebenspassion hatte und brannte.“
Aus nächster kollegialer Nähe betrachtet, begegnet einem offenbar ein ganz anderer „FiDi“. Aus der Distanz der spätgeborenen Hörerin hingegen ist man geneigt, mit dem wachsendem Ruhm des Interpreten von einer „Totalisierung des Vortrags“ (Ulrich Schreiber) zu sprechen. Von einer Überfrachtung des Wie, oder mit Jürgen Kesting (der ihn freilich gar nicht leiden kann) die fehlende „Anmut einer zweiten Naivität“ einzuklagen.
Lange war Dieskau allein auf weiter Flur, karrieretaktisch kein unwichtiges Moment. Die Vorkriegsgeneration eines Heinrich Schlusnus, Gerhard Hüsch, Willi Domgraf-Fassbaender oder Karl Erb konnte nach 1945 oftmals nicht mehr weitersingen, Weggefährten wie Hans Hotter oder Hermann Prey schlugen andere Wege ein (mehr ins dramatisches Fach der eine, mehr Richtung Unterhaltungsfernsehen der andere), den Franzosen Gérard Souzay oder den Amerikaner Barry McDaniel kannte kaum einer, und die Jüngeren, die Jungen sahen und sehen die Latte in schwindelerregender Höhe hängen. Dieskaus Autorität habe auch „gedrückt“, gibt nicht nur Fassbaender zu bedenken.
Wie müssen sich da in den Achtziger- und Neunzigerjahren erst ein Andreas Schmidt oder ein Olaf Bär gefühlt haben, wie mag es heute Matthias Goerne, Thomas Hampson, Dietrich Henschel, Christian Gerhaher oder Roman Trekel ergehen? Ohne Fischer-Dieskau, so viel ist sicher, würde keiner dieser Baritone heute so Lieder singen, wie sie es tun. Das gilt für die Entrümpelung, die Säkularisierung des poetischen Pathos ebenso wie für Fragen der Programmgestaltung. Und es gilt für eine ganz bestimmte Haltung: Das psychologisierende, gewissermaßen konzeptionelle Singen, es hat sich mit Dieskau einfach sehr gut eingeprägt und gelernt. Nur-Sänger, Naturbursche, wie Fritz Wunderlich es im guten Sinne noch gewesen ist, kann und will niemand mehr sein. Das Herz auf die Lippen zu legen, das traut sich heute so leicht keiner. Obwohl (oder weil?) handwerklich-technisch so perfekt gesungen wird wie nie.
In Fischer-Dieskaus „Dichterliebe“ von 1979 nun, mit 54 Jahren gesungen, auf dem Zenit seines Ausdruckswillens, sind die Unterschiede bereits merklich: Der Interpret fungiert hier mehr als „cantor doctus“ oder, wie die „New York Times“ etwas fies titelte, als „Big White Father“. Keine keuschen Decrescendi mehr, kaum Meiden, alles Meinen, Deuten, Illustrieren – und eine Stimme, die von ihrer strahlenden Biegsamkeit, ihrer Zärtlichkeit viel eingebüßt hat. Liedgesang ist nichts zum bloßen Genießen oder Erleben, so lautet die Botschaft, Liedgesang ist etwas zum Klugsein und Verstehen.
Seltsam, dass Fischer-Dieskau seine eigene Entwicklung immer ganz anders beurteilt hat: Grundsätzlich gehe es bei ihm „auf die Einfachheit hin und weg vom Weinerlichen“. Aber wer täuschte sich nicht bisweilen in sich selbst? Am Freitag ist Dietrich Fischer-Dieskau mit 86 Jahren in seinem Haus am Starnberger See gestorben. Er sei sanft entschlafen, heißt es, und das tröstet. Was bleibt, ist eine Pioniertat, unersetzbar und unersetzt. Eine deutsche Stimme in der Welt. Ein Seelenecho, das uns fehlen wird.
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