Neuer Film vom „Oh Boy“-Regisseur: „Lara“ setzt Corinna Harfouchs Schauspielkunst ein Denkmal
Jan-Ole Gerster gelingt ein Gegenentwurf zum Close-Up-Kino. Harfouch spielt die enttäuschte Pianistin. Und streift durch ein Berlin, das fast an Paris erinnert.
Die Welt da draußen kann eine Zumutung sein. Kaum erhebt sich Lara Jenkins aus dem Bett, öffnet das Hochhausfenster, stellt den Stuhl davor und steigt hinauf, da klingelt es. Ein greller Ton zerreißt den Morgendämmer.
Vor der Tür stehen zwei Polizisten. Jenkins, die vor der Pensionierung leitende Beamtin in der Stadtverwaltung war, wird als Zeugin bei einer Wohnungsdurchsuchung gebraucht. Ihr Pflichtgefühl ist stärker als die Verzweiflung. Der Tag, an dem sie 60 Jahre alt wird, rollt ab.
Gut Ding will Weile haben. Darüber können, wenn einer den Zweifel genauso kennt wie die Ansprüche, durchaus schon mal sieben Jahre vergehen. So ist es dem Regisseur Jan-Ole Gerster geschehen, der 2012 mit dem Debüt „Oh Boy“ aus dem Stand bis hinauf zum Europäischen Filmpreis alle denkbaren Auszeichnungen abgeräumt hat.
Und nebenbei mit dem in schickem Schwarz-Weiß gefilmten, von Jazzklängen untermalten Porträt eines Kreuzberger Slackers zugleich das Lebensgefühl der notorisch unfertigen, sich verzettelnden Stadt einfing.
Der zweite Film des 1978 geborenen Absolventen der Berliner Film- und Fernsehakademie erzählt ebenso beiläufig wie präzise. Ein Mensch, dessen Begegnungen, ein Tag, eine Stadt. Nur, dass Berlin diesmal fast so edel wie Paris aussieht.
Eine Glasscheibe trennt sie von der Welt
„Lara“ spielt im bürgerlichen Westen – zwischen Hansaviertel, Savignyplatz und Kurfürstendamm. Der Herbst wirft krosse Blätter auf die breiten Bürgersteige. Lara streift rastlos rauchend in Pumps und rotem Mantel an Schaufenstern und Prachtfassaden vorbei.
Lara, das ist Corinna Harfouch. Von ihrer Zusage für die Hauptrolle hatte Gerster die Verfilmung eines Drehbuchs des in Berlin lebenden slowenischen Autors und Regisseurs Blaž Kutin abhängig gemacht. Der Film setzt ihrer spröden Schauspielkunst ein Denkmal.
Sie ist in jeder Einstellung zu sehen. Als eine Frauenfigur, die in ihrer neurotischen Strenge an Isabelle Huppert in Michael Hanekes Drama „Die Klavierspielerin“ erinnert. Genau wie Huppert wirkt auch Harfouch eingeschlossen, abgeschnitten, ja wie durch eine Glasscheibe von der Welt getrennt.
Gersters feinnerviges Drama ist das Gegenmodell zu der im Kino grassierenden Seuche, Gesichter unentwegt in Nähe und Unmittelbarkeit heischenden Großaufnahmen abzulichten. Kameramann Frank Griebe wahrt Distanz. Seine Bilder sind statisch, fast hermetisch und verleihen dem in wenigen Stunden zusammenschießenden Lebenstrauma Konzentration und Eleganz.
Die Mutter kauft Karten für das Konzert des Sohns auf
Am Abend gibt Laras Sohn Viktor, den Tom Schilling, der Held aus „Oh Boy“, spielt, ein Klavierkonzert im Theater des Westens. Hin- und hergerissen zwischen Beschützerinstinkt und Kontrollwahn kauft die Mutter, die einst selbst von einer Karriere als Pianistin träumte, alle Restkarten auf und verteilt sie an verdatterte Ex-Kolleginnen und Zufallsbekanntschaften.
Sogar die Musikschule, wo ihr alter Lehrer, Professor Reinhofer, immer noch unwillige Jungs schurigelt, sucht sie auf. Reinhofer soll unbedingt ins Konzert kommen, um ihr zu bestätigen, dass wenigstens der Sohn zum Virtuosen taugt.
Unbeantwortete Anrufe bei Viktor sprechen davon, dass Lara sich mit dem Vollstrecker ihrer künstlerischen Sehnsüchte so entzweit hat wie ihre Mutter mit ihr. Der familiäre Showdown unterkühlter Mütterlichkeit, den sich die Eisköniginnen Corinna Harfouch und Gudrun Ritter wenige Stunden vor dem Konzert des geliebten Sohnes und Enkels liefern, lässt das Blut gefrieren.
Nur die folgende, ebenso punktgenau geschriebene, inszenierte und gespielte Szene in Großmutters Haus toppt die Beklommenheit. Da attestiert Lara Viktor, dass seine später uraufgeführte Komposition „musikantisch“ ist, gefällig also, reines Mittelmaß.
Die Angst des Künstlers vor dem Ungenügen, die Qualen niemals endender Disziplin, kurz der Preis des Virtuosentums – dieses Thema reiht „Lara“ in die jüngste Welle von Musikerfilmen ein.
Seien es „Prélude“, „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“, das Pianistinnen-Biopic „Licht“ oder demnächst „Das Vorspiel“ von Ina Weisse. Sie alle arbeiten sich am Faszinosum idealen Künstlertums ab.
In Gersters Variation aufs Thema mit dem so frustrierenden wie erleichternden Ergebnis, das auch Mittelmaß vom Publikum bejubelt wird. Wobei „Lara“ weder reines Künstler- noch reines Familiendrama ist. Jan-Ole Gerster selbst nennt es ein „Drama ungelebten Lebens“.
Ihre Eltern bedauere ich jetzt schon für die Blamage
Das verpasste Pianistinnenleben liegt wie ein Betonpanzer auf ihren Zügen. Corinna Harfouch schafft es mit sparsamster Mimik, die sich langsam steigernde emotionale Implosion ihres Charakters zu zeichnen. Sie erinnere sich ganz genau an damals, merkt die einstige Klavierelevin beim Umtrunk nach dem Konzert der unerbittlichen Professorenlegende gegenüber an.
Der ist mit Viktors Leistung überraschend zufrieden. Mit ihr war er es weniger. „Sie sagten: Lara, wenn ich an den Tag Ihres ersten öffentlichen Auftritts denke, bedauere ich Ihre Eltern jetzt schon für die Blamage!“ Ein dahingerotzter Satz, der ein Leben aus der Spur bringen kann. Wenn man die Zweifel kennt und die Ansprüche.
[„Lara“ startet am Donnerstag in den Berliner Kinos: Blauer Stern Pankow, Capitol, Cinemaxx Potsdamer Platz, Delphi, Delphi Lux, FaF, fsk, Hackesche Höfe, International, Kulturbrauerei, Yorck]
Mit denen ist der Filmkomponist Arash Safaian hörbar gut fertiggeworden. Abgesehen von den rein musikantischen Qualitäten des romantischen Bühnenthemas schafft seine Musik eine dichte Atmosphäre. Sie unterstreicht Dissonanzen und setzt neben Streichern und Klavier auf die Aura dunkler Klarinetten- und Fagott-Farben.
Fast unnötig zu sagen, dass Jan-Ole Gerster die von ihm reklamierte Sorgfalt auch beim Besetzen der Nebenrollen walten lässt. Mit Alexander Khuon, Bernd Moss, Ritter und Harfouch ist das Deutsche Theater gut vertreten.
Volkmar Kleinert besticht in der Rolle des durch Zynismus und Alkohol imprägnierten Klavierlehrers. Zuerst erkennt der alte Reinhofer die einstige Schülerin gar nicht wieder. „Es waren so viele“, entschuldigt er sich.
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