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In Trümmern geboren. Der junge Russe Vasily Barkhatov führt bei der Uraufführung Regie, für das Bühnenbild ist Zinovy Margolin verantwortlich.
© Bernd Uhlig / Deutsche Oper

Premiere an der Deutschen Oper: Der Tod ist weiblich

Die grausame Königin thront über allem: Mit der Uraufführung von Aribert Reimanns „L’Invisible“ eröffnet die Deutsche Oper ihre Spielzeit.

Wenn sich auf einer Party die Gäste in Smalltalk ergehen und dabei das eine zentrale Thema, das allen durch den Kopf geht, verschämt aussparen, spricht man von einem „Elefanten im Raum“. Der Elefant in den Räumen unseres Lebens ist der Tod. Die unumstößliche Tatsache, dass wir alle sterben müssen, ist die, worüber wir am wenigsten reden. Für Aribert Reimann galt das noch nie. Seine Figuren, seien es Melusine, Lear, K. im „Schloss“ oder Medea, befinden sich ausnahmslos in emotionalen Extremsituationen, am Abgrund, in Sackgassen. Aber so deutlich wie in „L'Invisible“, seiner neunten und neuesten Oper, hat der inzwischen 81-jährige Komponist seine Beschäftigung, ja Obsession mit dem Tod noch nie in Musik geformt. Mit der Uraufführung am Sonntag hat die Deutsche Oper Berlin, die Reimanns Karriere entscheidend mitgeprägt hat, ihre Spielzeit eröffnet.

Gefunden hat der gebürtige Berliner Reimann seinen Stoff diesmal nicht in einem, sondern in gleich drei kurzen Dramen von Maurice Maeterlinck: „L'Intruse“ („Der Eindringling“), „Intérieur“ und „La mort de Tintagiles“ („Der Tod des Tintagiles“). Der Tod ist im Französischen weiblich, und so thront hier eine Frau über allem: eine grausame Königin, zugleich Großmutter des Knaben Tintagiles. Sie wird erst im dritten Stück erwähnt, niemand hat sie gesehen, doch sie gibt der ganzen Oper den Namen: „L’Invisible“, die Unsichtbare. Wie stellt man Kohärenz her zwischen Stücken, die offensichtlich von ihrem Schöpfer nicht dazu gedacht waren, an einem Abend hintereinander aufgeführt zu werden? Reimann, der die Dramen erstmals in den achtziger Jahren an der Schaubühne gesehen hat und sie seither vertonen wollte, tut das zum einen inhaltlich: Indem er den Knaben herausstellt, der im ersten Stück geboren wird, im zweiten dann zu einer Familie gehört, der eine schlimme Nachricht überbracht wird, und der im dritten Teil schließlich – jetzt unter dem Namen Tintagiles – von den Dienern der Großmutter entführt und ermordet wird.

Zum anderen verflechtet Reimann die Stücke musikalisch auf vielfältige Weise miteinander, indem er – zum ersten Mal in diesem Ausmaß – einen streng geschiedenen Orchesterklang einsetzt, der im Aufbau seine eigene Dramaturgie besitzt. „L’Intruse“ erzeugt mit tiefen Streichern, Celli und Bässen ein beständiges Grundierungsraunen, Glissandi, viel Chromatismen, klatschende Saiten. Ausschließlich Streicher prägen diesen ersten Teil. Bläser kommen erst im allerletzten Moment hinzu. Am Pult setzt sich Donald Runnicles engagiert dafür ein, diese Partitur in ihrer ganzen Körnigkeit möglichst plastisch zum Ausdruck zu bringen.

Als das Neugeborene schreit, stirbt die Mutter

Es sind keine fröhlichen Geschichten, die erzählt werden, in allen drei Stücken stirbt jemand. Der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov und Zinovy Margolin (Bühne) haben dazu eine schlichte Hausfassade mit graugrobem Putz gebaut. Eine Familie kommt zusammen, nebenan ist ein Kind geboren worden. Doch dass noch jemand im Raum ist, „L’Intruse“, der Tod, merkt nur der blinde Großvater. Stephen Bronk singt ihn mit markant strömendem Bassbariton, durchschnitten vom weißlichen Tenor von Thomas Blondelle als Onkel. Beide werden später noch andere Rollen übernehmen, auch so stellt Reimann einen inneren Zusammenhang her.

Als das Neugeborene erstmals schreit, stirbt die Mutter, und das Orchester markiert einen prägenden Moment: die Holzbläser setzen ein mit einem schrillen, dissonanten Akkord, überlagert vom viergestrichenen Fis in den flageolettierten ersten Geigen. Ein Akkord, der von den Streichern atmosphärisch vorbereitet und, so drückt es Reimann aus, schließlich aus der Szene „herausgepresst“ und als Todesakkord immer wieder erklingen wird.

Serebrennikow ist das Vorbild von Barkhatov

Einheit zwischen den Stücken schaffen auch kurze Zwischenspiele, in denen drei Countertenöre (Tim Severloh, Matthew Shaw, Martin Wölfel) madrigalartig Maeterlinck-Verse singen. Es sind die Diener der Königin, die von Reimann früher als im Original eingeführt werden. Das zweite Stück „Intérieur“ spaltet sich in Vorder- und Hintergrund: Während eine Familie in provozierender Harmlosigkeit den Christbaum schmückt, ringen ein Alter (wieder Stephen Brock) und ein Fremder (wieder Thomas Blondelle) darum, die Nachricht vom Tod der Tochter zu übermitteln. Im Orchester spielt nur das Holz, in fast kammermusikalischer Besetzung.

An der Hausfassade wird in Form von Schattenrissen eine parallele Geschichte erzählt: die Dorfbewohner, die die Leiche der Tochter im Fluss finden. Mit diesen Schatten, die sich zu Riesen auswachsen, hat Vasily Barkhatov eine geeignete Lösung für die Aufgabe gefunden, vor der er sich gestellt sah: Maeterlincks Symbolismus in realistisches Musiktheater zu überführen und dennoch nicht das Märchenhafte zu verraten. Barkhatovs nüchterne, von Schwarz-Weiß-Kontrasten geprägte Ästhetik dynamisieren die Schatten, ohne sie zu sprengen. Der 34-Jährige nennt den widerspenstigen Regisseur Kirill Serebrennikow, den gerade ein Hausarrest in Moskau zur Raison bringen soll, als Vorbild. Sein Stil ist allerdings deutlich strenger und weniger verspielt.

Niemand kann besser für Stimme schrieben als Reimann

Farbe, vor allem Stimmfarbe, kommt mit der Schweizerin Rachel Harnisch ins Geschehen. Sie singt Marie, eine der beiden Enkelinnen des Alten in „Intérieur“ und dann, nach einem weiteren Zwischenspiel, den großen Monolog der Ygraine im „Tintagiles“. Ygraine ist die Schwester des bereits kranken Knaben (Salvador Macedo in einer Sprechrolle). Und Reimann, der bis dahin die Vokalpartien mit für seine Verhältnisse eher ruhigen Mitteln gestaltet hat, hat für sie die aufregendste Gesangslinie des Abends vorgesehen.

Die Intervallsprünge werden größer, es gibt Ansätze von Koloraturen, und das ist kein Wunder: Ygraine ist aufs Äußerste erregt, sie weiß, dass die Königin den Bruder holen will. Dass Reimann so gut für Stimme schreiben kann wie kein zweiter zeitgenössischer Komponist, beweist er vor allem mit dieser Partie, die Harnisch mit loderndem Sopran interpretiert.

Begegnung der Generationen

Erst jetzt kommt das gesamte Orchester einschließlich der Blechbläser zusammen. Entsprechend schwillt das Volumen erstmals so an, dass eine Aufführung im Saal der Deutschen Oper gerechtfertigt erscheint. Ygraine aber kann sich die Seele aus dem Leib singen: Eine Chance haben Schwester und Bruder nicht. Die drei Countertenor-Diener kommen, den Jungen zu holen. Sie treten als Pfleger auf, was naheliegt, schließlich haben sich in jüngster Zeit immer wieder Krankenpfleger als Todesengel erwiesen. Dass ein Leben enden muss, ist das Unerklärliche schlechthin. Reimann und Barkhatov gelingt es in „L’Invisible“, die anonyme Bedrohung in Musik und Szene zu fassen. Eine Bedrohung, die jeder spüren kann in Zeiten von willkürlich in Menschenmengen rasenden Autos und wahllos um sich schießenden Massenmördern – wenn das nur nicht viel zu konkret gedacht wäre für Maeterlincks (hier im französischen Original gesungenen) frei flottierende, die Wirklichkeit allenfalls touchierende Verse.

Musikalisch spielt Reimann virtuos mit seinen kompositorischen Mitteln, ohne wirklich radikal Neues zu erfinden. „L’Invisible“: ein Kammerspiel, das nur passagenweise die Sogwirkung seiner „Medea“ entfaltet. Komponist und Regisseur (im Serebrennikow-Shirt) umarmen sich zum Schlussapplaus: berührende Begegnung der Generationen. Maeterlinck übrigens bleibt der Berliner Opernszene noch erhalten: Am kommenden Sonntag feiert an der Komischen Oper Debussys „Pelléas et Mélisande“ Premiere.

„L’Invisible“, wieder am 18., 22., 25 und 31. Oktober, Deutsche Oper Berlin

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